Sonntag, 12. Januar 2014

Ein wenig Unsterblichkeit

Da hielten wir nun ihren Brief in den Händen: "Sehr geehrte Kommission!" (Wir schmunzelten großzügig über die unbeholfen formulierte Anrede hinweg.) Sie gebe sich solche Mühe, immerzu und unentwegt. Hatte sie da nicht ein wenig ... Ja, was denn? ... ein wenig ...  Warum schrieb sie an entscheidender Stelle so undeutlich? ... Ah: ein wenig Unsterblichkeit verdient? 
Oh!
Nun ja, man könnte überlegen, wie sich das bewerkstelligen ließe: jemandem ein wenig Unsterblichkeit zukommen zu lassen. (Gelächter. Verhalten zwar, aber: Gelächter.) Ein wenig von etwas, das nur im Ganzen funktioniert, das, portionierte man es, ad absurdum geführt wäre. Oder etwa nicht?

Aber wie sah es denn nun aus mit ihren Taten, woraus bestand ihr Nachlass, worin ihr besonderer Verdienst?

Ich weiß nicht zu sagen, warum mir hier als erstes und eindringlichstes das Kind wieder in den Sinn kam. Das kleine Mädchen, dem sie über den Kopf strich. Einmal nur und ganz sacht. Aber es musste etwas in der Art dieser Berührung gelegen haben, das dieses Kind augenblicklich beruhigte. Es war nämlich außer sich vor Furcht, hatte im Gewühl auf dem Marktplatz die Eltern aus den Augen verloren und lief nun weinend herum, hierhin und dorthin und schließlich um ein Haar über die dicht befahrene Straße. Dort auf dem Gehweg aber, knapp am Bordstein war sie gestanden und hatte das Mädchen auf sich zu rennen sehen, war in die Hocke gegangen und hatte die Arme ausgebreitet, so dass das Kind von einer weichen Körperwand gebremst worden war. Es sah zu ihr auf, mit tränenüberströmtem Gesicht und stammelte völlig außer Atem "Meine Mama, wo ist meine Mama?!" Sie fasste das Kind am Arm und strich ihm sanft über den Kopf, beschwichtigend, während der Nachhall des Hupkonzerts und der quietschenden Autobremsen und des Aufschreis der Passanten verebbte. "Keine Angst, Liebes, wir werden sie schon finden. Ich helfe dir." 
Und dann: eine kleine Hand in einer großen, ein paar Schritte durch die Menge, ein "Da ist sie!", ein Aufeinanderzustürmen, ein Umarmen, ein vielstimmiges "Danke!", ein leises "Aber nicht doch."
Und dann: ein kleines Grüppchen, das sich nach einer kurzen glücklichen Begegnung wieder aufteilte in eine Familie, die sich fest an den Händen hielt und eine einsame, unzugängliche Frau.

Sollte ich noch mehr aufzählen? (Ehrlich gesagt gab es da nicht viel mehr.) Genügte dies nicht schon, um uns in die Schranken zu weisen? Unsterblichkeit zu verleihen als Preis für besondere Leistung! Einer Person, die sich durch nur eine einzige Handlung längst selbst unsterblich gemacht hatte. Sie bedurfte unserer Bewertung, unseres Urteils nicht. Vielleicht sollten wir ("geehrte Kommision") ihr allerdings genau das mitteilen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen