Montag, 28. Dezember 2015

Statt eines Jahresrückblicks:

Tauchen
tief
unter dem Netz durch
bis zum [eigenen] Grund


***


Ich war/bin weit weg, innerlich („Ich äußere mich nicht nur, ich innere mich auch“), fahre heute zudem in meine internetfreie Zone (Elsass, you know) und komme erst im neugeborenen Jahr 2016 zurück. Es gab hier diesmal keinen Jahresrückblick. Vielleicht bringe ich demnächst einen Ausblick zustande. Vielleicht aber auch nicht. Vorsätze? Keine außer diesem: immer weiter zu gehen, in Bewegung zu bleiben ... Ich könnte mich jetzt festschreiben, aber die Tasche ist gepackt, das Auto getankt. Los geht‘s! Ich wünsche Euch das Beste. Von Herzen. À bientôt!

Ach und nun trotzdem noch, weil es irgendwie Tradition ist:

Don‘t be afraid!


Freitag, 25. Dezember 2015

Tattoo

Am Morgen stellt sie fest, dass es nicht die geringste Veränderung in der Wohnung gibt. Nicht eine Spur. Kein Hinweis auf nächtliche Besucher. Aber sie waren doch da? Sie müssen da gewesen sein. Das letzte Mal liegt bereits sieben Wochen zurück. 
Oh ja! Beim Blick in den Badezimmerspiegel entdeckt sie das neue Tattoo. Damit sind es nun fünf: eine Wolke unter der linken und ein Stern unter der rechten Fußsohle, ein Pfeil an der Innenseite des linken Handgelenks, eine Maus unter der linken Brust und, ganz neu, ein winzigkleiner Vogel. Sein Schnabel ist geöffnet, das Köpfchen angehoben, als wolle er singen. Er sitzt mitten in der zarten Grube am Hals, zwischen den Schlüsselbeinen. Jugulum, denkt sie. Drosselgrube. Eine empfindliche Stelle. Darunter wohnen Atem und Lied. 
Sie spürt es nie, wenn die Besucher sie mit ihren Werkzeugen bearbeiten. Kein einziges Mal ist sie währenddessen aufgewacht, weiß nicht, ob die Tätowierer mit der Hand arbeiten oder Maschinen benutzen. Jedenfalls sind die Tattoos perfekt und die Stellen, an denen sie sitzen, sind unverletzbar. Das hat sie herausgefunden, als sie das erste Tattoo, auf dessen Entdeckung sie noch völlig panisch reagierte, erst abzuwaschen versuchte und es, als das nicht funktionierte, mit immer härteren Methoden bearbeitete, von denen keine wirksam war, nicht einmal das Messer. Nicht den geringsten Kratzer oder auch nur eine minimale Hautreizung hinterließen ihre Bemühungen, die Wolke unter ihrer Fußsohle zu entfernen. Sie fand sich schließlich damit ab, entdeckte sogar einen Vorteil in dieser partiellen Unverletzlichkeit. 
Die darauffolgenden Tattoos erschreckten sie bei weitem nicht mehr so wie das erste. Irgendwann freute sie sich darüber, wartete gespannt auf das nächste, ließ ihre Tür bei Tag und Nacht unverschlossen, um den Tätowieren den Zugang zu erleichtern. Sie kamen immer des Nachts, das war gut so. 
Das ist gut so, denkt sie und betastet sanft das Federkleid des kleinen Vogels. Fast meint sie, den zarten Flaum unter ihren Fingern zu spüren. Und sogar ein leise pochendes Herz? 
Was bin ich für meine nächtlichen Besucher?, fragt sie sich. Wer bin ich? (Für sie?)

Montag, 14. Dezember 2015

Freude

Noch vier mal schlafen, dann fahre ich für drei Tage zur Freundin in die Schweiz. Meine jährliche kleine Auszeit inmitten des trubeligen Bücherweihnachtsgeschäfts.

Noch sechs mal schlafen, dann kommt meine Tochter für zwei Wochen aus dem fernen Liverpool nach Hause.



Ach, mein Herz ist manchmal eine schneeweiche kerzenlichtwarme Kitschgrube im allerpositivsten Sinn.


Das musste mal eben geteilt werden. Für mehr reicht meine Zeit gerade nicht. Vielleicht schaffe ich „zwischen den Tagen“ noch einen Jahresrückblick.

Habt es schön!

Mittwoch, 9. Dezember 2015

SCHREIB FÜR FREIHEIT: DER AMNESTY-BRIEFMARATHON 2015

[...] Der Briefmarathon findet jedes Jahr rund um den "Internationalen Tag der Menschenrechte" im Dezember statt und ist mittlerweile die größte internationale Amnesty-Aktion: Im vergangenen Jahr 2014 schrieben Menschen aus fast allen Ländern der Erde mehr als drei Millionen Briefe [...]. *

[...] Das gemeinsame Briefeschreiben zeigt die Kraft der Amnesty-Bewegung: An wenigen Tagen konzentrieren sich Menschen auf der ganzen Welt auf das Schicksal Einzelner. Die unzähligen Briefe zeigen den Betroffenen und ihren Familien, dass sie nicht allein sind. Und sie machen Regierungen Druck: Einen einzelnen Brief können die Behörden ungelesen wegwerfen, aber Tausende von Schreiben, die auf die Einhaltung der Menschenrechte pochen, lassen sich nicht ignorieren! [...] *


Eine der Menschen, für die sich Amnesty in diesem Jahr einsetzt, ist Yecenia Armenta, eine Folterüberlebende aus Mexiko. 
Sie wurde wurde 2012 festgenommen, vergewaltigt und unter Folter gezwungen, eine Straftat zu gestehen, die sie nicht begangen hat. Seitdem sitzt sie in Haft. Am 10. Juli 2015 hat sie einen Brief an Amnesty geschrieben, den man hier nachlesen kann. *

* Quelle: ai

Die Briefaktion zeigt Wirkung. Man kann sich auf verschiedene Weisen beteiligen: durch das Versenden eines vorformulierten Online-Appells, was mit ein paar Klicks und dem Eintragen von Namen und e-mail-Adresse erledigt ist. Oder man druckt die vorformulierten Briefe aus und versendet sie per Post. 
Hier geht‘s zur Aktion.

Samstag, 5. Dezember 2015

Bilder im Kopf (vom Erleben zum Text und wieder zurück)

die Bilder im Kopf
der Korrektor im Kopf
der Text im Kopf

die Tage am See, der Blick aufs Wasser, der warme Wind auf der nassen Haut

du kannst nichts mehr lesen, ohne dass dir automatisch Grammatik- und Rechtschreibfehler auffallen, ohne missglückte Formulierungen in Gedanken zu verbessern

wir bleiben, bis die Sonne untergegangen ist, die Ameisen machen sich über die Baguettekrümel her, den letzten Schluck Wein trinken wir direkt aus der Flasche, den Kopf weit in den Nacken gelegt, die  ersten Sterne schon im Blick

früher hast du Bücher verschlungen wie ein hungriges Tier seine Beute, heute bedeutet jeder Text Arbeit, der geschriebene wie der gelesene, bedeutet Arbeit und damit eine ganz eigene Befriedigung, die du nicht mehr missen willst

wir waren so jung, die Kinder noch klein, wir liebten uns fraglos, damals, fühlten uns sicher, ein Ende war nicht abzusehen, so dehnbar war das Jetzt


du lebst so sehr in Text und Schrift, siehst alles Erlebte unmittelbar in Worte gefasst, perfekt formuliert, es legt sich übereinander, verwischt, fast stellt sich dir die Frage – ironisch – Was war zuerst da: Der Text oder das Erleben?

ich hatte nie  eine Kamera dabei, meine alte Voigtländer, die ich zum zwölften Geburtstag bekam, war irgendwann in der Tiefe eines Umzugskartons verschwunden und nie wieder aufgetaucht, ich wollte nicht auf Bildern festhalten, sondern unmittelbar erleben und schauen, ohne störendes Objektiv zwischen mir und den Dingen; die Tage am See, der unverstellte Blick, die vollkommene Anwesenheit im Moment, der warme Wind, den ich im Hautgedächtnis speicherte, nicht im Kopf, dort gedanklich ausformuliert, später vielleicht sogar zu Papier gebracht, nein ... er ist noch da, der warme Wind, ebenso das Gefühl, das er erzeugte, es ist jederzeit abrufbar, nicht sicht- oder lesbar, sondern spürbar

du liebst das Wort und das Spiel mit der Sprache, es ist fast so etwas wie dein Zuhause, du hast dich darin eingerichtet, deine Leidenschaft sogar zum Beruf gemacht, bist umgeben von bedrucktem Papier, von Bildschirmlettern, von Text, Text und Text, von unzähligen schwarzen Buchstaben auf weißem Grund

die Farben, das Licht, die sanfte Geräuschkulisse, das Ineinanderfließen der Eindrücke, das Zurücklehnen mit geschlossenen Augen, der so unfassbar weite Moment, kein Grund, ihn zu fliehen, bietet er doch soviel Raum

du wirst dich nicht vom Text verabschieden können, das weißt du, er ist deine zweite Welt und dies schon von deiner Kindheit an, als du dir mit fünf Jahren selbst das Lesen beibrachtest, dann das Schreiben und seitdem ... Bücherfluchten, sie retteten dich auch, erlösten dich für heilsame Stunden von einer unerträglichen Realität, danach hast du nie mehr herausgefunden, rettest dich immer noch in geschriebene Welten, schreibst selbst an deiner, Rettung auch das, und merkst du, wie es sich jetzt vermischt? wie du vom See und vom reinen Erleben zum Wort kommst wie es untrennbar geworden ist nicht mehr kategorisierbar oder doch? du wünschst es, manchmal, wünschst dir manchmal die Zeiten zurück, die du in Erinnerung als glückliche abgespeichert hast, die buchstabenlosen, wortbefreiten, wünschst sie dir wegen ihrer Unmittelbarkeit zurück, wegen ihrer Vollkommenheit, nichts fehlte, und so frei von jeglichem Bedürfnis des Festhaltens warst du, allein das ist dir Beweis genug ....


Schreiben und schreiben, dem Papier auf, der Haut ein, alles Text, nichts als Text

Manchmal aber auch: Bilder

.....

Freitag, 4. Dezember 2015

Mein Zimmer

In den vergangenen Tagen habe ich das alte Zimmer meiner Tochter zu meinem Zimmer gemacht. Ich hatte längst ihre Erlaubnis, brauchte aber eine Weile, um auch diese Phase des Abschieds in Angriff zu nehmen. Jetzt endlich war es soweit. Kisten packen, hinauf ins Dachzimmer tragen, putzen, Möbel umstellen, abbauen, wieder aufbauen, meine überall im Haus verteilten Sachen zusammentragen, entscheiden, was bleibt, was weg kann, was wo hinkommt.


Ich hatte zunächst überlegt, die paar Löcher in den Wänden zu verspachteln und anschließend alles neu zu streichen. Stattdessen habe ich aus einer spontanen Laune heraus Pflaster drauf geklebt, einen langen Riss mit roter Ölpastellkreide nachgemalt und „Die Wände bluten zurück“ mit Bleistift daneben geschrieben. 
Die Gedichtbände und Musikerbiografien stehen ordentlich nebeneinander aufgereiht, dazu noch ein paar schöne, besonders geliebte Bücher, z.B. Alice, der Ausstellungskatalog der Joan Mitchell-Retrospektive liegt da, aktuelles Inspirationsobjekt, darüber hängt das Ausstellungsposter, die Rolling Stone-Ausgaben sind chronologisch gestapelt, ein paar Muscheln (alle aus der Bretagne), eine Mosaikschale, meine alte Briefwaage, ein paar Romane auf dem Nachttisch („Phantasien“ von Jason Starr, „Die Gestirne“ von Eleanor Catton, „Die gelbe Tapete“ von Charlotte Perkins Gilman), der Essayband „Wenn Männer mir die Welt erklären“ von Rebecca Solnit, das Gedichtbändchen „Dezember“ aus dem Reclam Verlag ...
Mein Bett, Kissen und Decken, mein Schreibtisch, darauf Stifte und Papier, Malblock und Farben, mein Laptop ...
Ich brauche gar nicht viel (oder: das Wenige ist mir viel).
Ordnung – Schönheit – Inspiration. Ich stand vor der Wahl, entschied mich für alle drei. Nichts ist fertig, alles ist Ausgangspunkt, Freiraum ...  Ich liebe mein neues Zimmer, es ist so – so – meins.

Meine Tochter hatte mit Bleistift auf die Tapete neben dem Türrahmen (so dass jedesmal beim Verlassen des Zimmers ihr Blick darauf fiel) geschrieben: „You‘ll never get what you want unless you take it.“ Das bleibt, ich hab‘s noch rot eingerahmt.