Sonntag, 30. November 2014

Dust in the Wind - Road to Anywhere IV

Wir fuhren weiter und weiter, irgendwann hüllte uns die Dunkelheit ein mitsamt ihrer freundlichen Ruhe. Wir hatten schon ein Weilchen nichts mehr geredet, trieben einfach dahin im Soundtrack des Mixtapes und vorbei an nächtlich beleuchteten Flecken. Der hereinströmende Fahrtwind kühlte uns ab, irgendwann kurbelten wir die Fenster hoch.

"So langsam könnte ich ein Bett gebrauchen", unterbrach ich schließlich die Stille.

Mario gähnte. "Wir sind gleich da."

Und tatsächlich erkannte ich kurz darauf die Stelle wieder, an der ich am Morgen die Abzweigung genommen hatte. Aus einer Laune heraus, nichts ahnend. Und dann dieser Tag ...

Ich stellte den Wagen ab und Mario lud mich in seinen Bau ein. Gemütlich war's da, lauter Ecken, in denen sich gut rumlümmeln ließ. Alles wirkte so einladend, als habe er regelmäßig Gäste. 
Er führte mich in ein kleines Zimmerchen, da stand ein frisch bezogenes Bett. Es duftete nach Heu, auf dem Nachttisch lagen ein paar angeknabberte Möhrchen. "Tschuldigung", murmelte Mario, und räumte sie weg. "Das Bad ist gleich da vorne und durch die Küche sind wir reingekommen. Der Kühlschrank ist voll, falls du was brauchst. Und jetzt gute Nacht, ich bin echt müde." Er umarmte mich fest und drückte mir einen feuchten, fellkitzelnden Kuss auf die Wange. "Schlaf gut, Alice. Und merk dir deine Träume. Morgen will ich wieder Geschichten hören."

Ich ließ mich in die weichen Kissen sinken und fiel sofort in tiefen Schlaf. Nichts Bad, nichts Kühlschrank. Nur Schuhe aus und ab ins Bett, hinüber in die andere Welt.

Ich spazierte auf einer überdimensionalen Karte, irrte zwischen Häuserschluchten umher, lief im Kreis, blickte immer wieder auf die Uhr und suchte zunehmend verzweifelt nach dem Weg. Das Problem war: Ich hatte mein Ziel vergessen. Jedesmal, wenn es kurz wieder aufblitzte in meinem Kopf und ich einen Passanten befragen wollte, entwischte es mir noch während ich ein einleitendes "Entschuldigung, können Sie mir vielleicht sagen, wie ..." formulierte.
Plötzlich kamen Stimmen aus dem Off, erst eine, dann immer mehr, anschwellend zu einem Chor. Sie sangen: "Duhuhu, wohin willst duhuhu, frag deinen Schuhuhuh, der sagt's dir schubidu ..."
Ich war genervt, fühlte mich auf den Arm genommen, wäre viel lieber in den Arm genommen, musste schmunzeln angesichts dieses, wie ich fand gelungenen, Wortspiels, war dann sauer, weil ich schmunzeln musste, wie unangemessen in dieser ernsten Lage, wusste doch selbst nicht, ach, mir taten die Füße weh, alles war doof ...
Ich ließ mich zu Boden sinken, an eine Hauswand gelehnt und riss den nichtsnutzigen Ortsplan in tausend kleine Fetzen, streute diese hoch in die Luft. Sie regneten zu Boden und lockten mehrere Tauben an, die aber schnell enttäuscht wieder davonflatterten, genauso an der Nase herumgeführt wie ich.
Mich überkam eine unbändige Lust zu weinen. Ich taxierte kurz meine Umgebung, die vorbeihastenden Menschen und beschloss, meinen Tränen freien Lauf zu lassen ...

Ich erwachte, weil ich niesen musste. Etwas kitzelte mich in der Nase, klebte an meinem tränennassen Gesicht. Ich schlug die Augen auf und blickte in dichtes weißes Fell. Mario hielt mich im Arm und wiegte mich sacht. "Ich dachte mir schon sowas", flüsterte er mir, so sanft er es mit seiner piepsigen Stimme vermochte, ins Ohr. "Lass laufen, Liebes." Und ich ließ laufen ...




Samstag, 29. November 2014

Der Carpainter - Road to Anywhere III

Von meinem Mixtape erklang Tim Hardin, die Woodstockfassung.



Mario sang lauthals mit: " If I were a carpainteeeer and you were a laaaadyyyy ...".

"Das heißt nicht carpainter sondern carpenter", korrigierte ich ihn.

"Quatsch", sagte er und sang weiter, um sich gleich darauf nochmal zu unterbrechen: "Garantiert kennste den sowieso nicht."

"Wen?" fragte ich.

"Na, den Carpainter", Mario rollte mit den braunen Kulleraugen, "den Freund vom Walross."

"Nö, den kenne ich tatsächlich nicht. Aber unabhängig davon: Im Song heißt es carpenter - Zimmermann und nicht carpainter - Automaler, so'n Blödsinn." Zur Bekräftigung drückte ich zweimal auf die Hupe.

"Da vorne dann rechts", meinte Mario trocken. "Gleich hinterm Schrottplatz und durch bis zu dem Schild, auf dem dreimal-darfste-raten-was steht. Na? Na??? Genau!" Er lehnte sich zufrieden zurück, ein freches Grinsen im Gesicht.

Nachdem wir ein Stück neben der Umzäunung des Schrottplatzes langgerumpelt waren. stießen wir tatsächlich auf einen Torbogen, in dessen Wölbung ein Pappschild baumelte. 
"C A R P A I N T E R" war in großen bunten Buchstaben daraufgemalt.
Wir rollten auf einen Hof und ich kam mit quietschenden Bremsen zu stehen.Fast wäre ich in einen Farbeimer gefahren.

"Hey, Kumpel!", kreischte Mario aus dem Autofenster. Ein Mann kam hinterm Haus hervor, barfuß und in Latzhose, in der einen Hand einen Farbtopf, in der anderen einen riesigen Pinsel. Mit dem winkte er uns zu und malte dabei einen Bogen aus tropfendem Sonnengelb in die Luft.

"Mario, alter Hase! Schön, dich zu sehn. Wen haste denn da mitgebracht?"

"Das ist Alice, sie ist neu hier in der Gegend, kennt sich noch nicht so aus. Wollte übrigens auch nicht glauben, dass du'n Carpainter bist."

Der Latzhosenmann wandte sich mir zu. "Ach, nee?" Ich bemerkte noch das Blitzen in seinen Augen, hob den Arm, machte den Mund auf, um etwas zu sagen, da hatte er bereits einen fetten gelben Tupfer auf die Motorhaube meines Wagens gemalt. "Kannst dir noch aussuchen, obs 'ne Sonne oder'n Spiegelei oder'n Gänseblümchen werden soll. Bin für alles gerüstet." Er grinste. Ich war erstmal sprachlos.

Hilfesuchend drehte ich mich zu Mario. Der beachtete mich gar nicht, sondern plauderte drauflos: "Schönen Gruß vom Walross. Da waren wir eben. Hatten 'ne tolle Erzählrunde. Weißt ja, wie das läuft. Und dann lief eben dieses Lied auf Alices Mixtape, dieses: If I were a carpainter ..., und da meint sie doch glatt, ich verstünde das falsch und es gäbe dich gar nicht. Naja, jetzt weiß sie Bescheid." Und wieder hatte er dieses freche Grinsen im Gesicht.

"Und?", fragte der Mann mit der Farbe, an mich gewandt.

"Was, und?", fragte ich zurück.

"Na, Sonne oder Spiegelei oder Gänseblümchen?"

Ich seufzte. Mario strich mir übers Haar: "Lass mal Musik laufen, dann ist alles gaaanz easy."

Das machte ich. Und das war es dann auch: Gaaanz easy. Der Carpainter holte Getränke und ging anschließend seiner Arbeit nach. Mario und ich lagen im Gras und sahen zu.

Drei Malzbier später und nachdem die Farbe einigermaßen getrocknet war, fuhren wir weiter. Auf der Motorhaube brutzelte ein überdimensionales Spiegelei (wenn schon, denn schon) im Abendrot. Für die Beifahrertür hatte Mario sich ein goldenes Herz mit rotem Pfeil durch gewünscht und auch bekommen.





Die ganze Geschichte (tbc)

Freitag, 28. November 2014

Komplement

Mach Sei meinem Grün
ein Kompliment Komplement

und misch dein Blut
in meinen Pflanzensaft

will Rose sein
und Morgendämmerung

will Licht/licht sein, selbst
und Wärme
meiner kühlen Schattenflucht

schenk mir Facetten
die mir längst zu eigen
doch verborgen

dem Chlorophyll
der Heimstatt
einen Riss aus Rot




Marlies Blauth, Landschaft, 2014. Malerei auf Hartfaser, 50 cm x 120 cm

*

Herzlichen Dank, liebe Marlies, dass ich dein Bild hier verwenden darf!
Und meinen Leser_innen möchte ich Marlies' eigenen Text zum Bild empfehlen wie überhaupt ihr gesamtes inspirierendes Blog.

Donnerstag, 27. November 2014

The Time Has Come ... - Road to Anywhere II

"Ich bin übrigens Mario", sagte er. Der Fahrtwind blies ihm das Fell aus dem Gesicht und Tränentröpfchen aus den Augenwinkeln. Er hatte sich genüsslich im Sitz zurückgelehnt, streckte die Pfote aus dem Fenster, Wellenbewegungen im Rhythmus der Musik in die Luft schreibend.
Eine romantische Situation, wäre sie nicht so im tiefsten Sinne absurd.
"Hey, ich kann deine Gedanken lesen, pass besser auf!", rief Mario und grinste. Dann zog er eine Taschenuhr aus seinem Fell. "Keinen Moment zu früh", sagte er.
"Wofür zu früh? Was meinst du?", fragte ich. 
"Lalalalalala, wofür zu früh, das sag ich nü, was meinst denn du, frag doch den Schuh, lalalalalala", sang Mario albern vor sich hin. Dann lachte er, quiekend wie ein Meerschweinchen.
"Da vorne links abbiegen!", befahl er und ich folgte.
Wir durchquerten ein Tor, holperten etwa 200 Meter einen verschlungenen Feldweg entlang und hielten schließlich vor einem breiten, etwas schiefen Farmhaus. Eine Veranda zog sich um das Haus herum. In einem Schaukelstuhl saß ein Walross und rauchte Pfeife.
Mario war bereits aus dem Auto gehüpft. "Bleib sitzen, alter Freund!", rief er dem Walross zu, das aber sowieso keine Anstalten machte, sich zu erheben. Und zu mir gewandt meinte er: "The time has come to talk ..."

Tja, was soll ich sagen? Ich kletterte ebenfalls aus dem Wagen, stieg die Stufen zur Veranda empor und begrüßte das Walross. Dann nahm alles seinen Lauf. Wir erzählten und erzählten und erzählten ... of many things: Of shoes and ships and sealing-wax, of cabbages and kings and why the sea is boiling hot and whether pigs have wings *.

Es war .... uff .... es war dermaßen .... voll! .... es war unglaublich, phantastisch .... es war total irre, was ich zu hören bekam und erst recht, was ich von mir gab, als Erinnerung ausgab! ... unfassbar gute Geschichten, die besten meines Lebens ..... es war einfach .... puh ....

Danach fuhren wir weiter. "Yep!", rief Mario mit seiner piepsigen Stimme und klopfte sich auf die Schenkel. Dann: "Hey, machste mal die Musik wieder an."
Und der Fahrtwind nahm uns erneut in seine starken Arme.




* aus Through the Looking-Glass and What Alice Found There (1871) von Lewis Carroll

Mittwoch, 26. November 2014

Abzweigung - Road to Anywhere I

Ich nahm die Abzweigung vor der Ausfahrt, die auf der Karte markiert war. Warum? Keine Ahnung. Aus einer Laune heraus, aus Lust, aus Trotz, aus wasweißich. 
Die Straße endete dort, wo der weiße Rand der Karte begann. Der Pfeil sagte: Weiter auf S. 147, aber der Straßenatlas ging nur bis Seite 146. Ich stieg aus. 

"Hallo, Alice!", hörte ich jemanden rufen. Mit einer sehr piepsigen Stimme, so dass ich unwillkürlich auf den Boden sah, denn ich erwartete ein kleines Wesen als Besitzer dieser Stimme. 

Ich erblickte zwei Füße, schätzungsweise Schuhgröße 58, allerdings ohne Schuhe, sondern in, ich glaube natürlichem, Fellkleid. 
Ich ließ den Blick über noch mehr Fell, über wahnsinnig viel weißes, kuscheliges Fell hinaufwanden. In Augenhöhe ein paar große, runde Augen. 

"Awww!", machte mein innerer aufs Kindchenschema abfahrender Urmensch. 

"Hi, ich find's voll schön, dass du mal vorbeikommst", piepste mein Gegenüber. 

Ich wedelte mit der Karte: "Das hier ...", ich beschrieb einen weiten Bogen mit dem Arm, "... ist da drin...", ich tippte auf die Karte, "... nicht verzeichnet." 

"Schon klar, gibt's aber trotzdem.", sagte das Fellbündel, drängte sich an mir vorbei, öffnete die Beifahrertür meines Wagens und ließ sich auf den Sitz plumpsen.

"Was wird das denn jetzt?", fragte ich. 

Es drückte auf die Hupe, mehrmals, schloss die Tür, kurbelte das Fenster runter und sagte: "Drehen wir 'ne Runde? Och bittebittebitteeeeee! Mit Radiooo!!!!!"

Ich stieg ein und sagte: "Das Radio ist kaputt, aber ich habe ein Mixtape." 

Dann fuhren wir los.





Die ganze Geschichte (tbc)

Montag, 24. November 2014

alles in Text

alles in Text
das Fleisch zu bändigen
das Blut zu beruhigen

alles.
in.
Text.

was da überlebt ...
überlebt da was?
da überlebt was:

das Fließende
das Flüchtige
auch das sehr Schwere

wie es zerrinnt
wie es davonschwebt
wie es heraus
                     f
                      ä
                      l
                        l
                       t





 
d e  h   n    e        d     e      n          Z       w        i         s          c           h            e             n            

r                         a                          u                             m     !
           



d                         e                               h                           n                                       e      

               i                                       h                                                               n      !







d                                                                                                                                                              

e                                                                                          
                                           h                                                                                                                          










n                                                                                                              



                                                                       e                      
 










 i                                                                            



                            



                                                                         h                                                                  



                                         









                  n









                   !



Atme die Lücken! Iss sie! Trink sie!

Sonntag, 23. November 2014

Weißt du noch?

Wir wollten immer wesentlich sein, weißt du noch? Keine Oberflächlichkeiten, keine Banalitäten. Alles musste Tiefe und Bedeutung haben. Eigentlich liefen wir immer hochschwanger herum, trugen mächtige Fragen und wahnsinnig komplexe Gedanken aus. Erinnerst du dich, wie unsere Köpfe rauchten und wie uns das erfüllte? Wir schürften tief und suhlten uns im Konglomerat des Rätselhaften. Schön war das, irgendwie befriedigend, auch wenn oder gerade weil die Antworten ausblieben. Und anstrengend war es auch.

Weißt du auch noch, wie wir zum Ausgleich herumalberten? Blödsinn erzählten, abstruse Assoziationsketten fertigten, irrsinnige Unternehmungen starteten, bis wir nicht mehr konnten vor Lachen. Überhaupt: Dieses Lachen. Wieso kam das damals so unmittelbar und prickelnd? So unstillbar. Wir kugelten uns, hielten uns die Bäuche, das Wasser spritzte uns aus den Augen. Diese unbezähmbare Fröhlichkeit, das Leichte daran. Der Ausgleich für das Schwere, das es unbestreitbar auch gab. 

Weißt du das noch? Nicht nur vom Kopf her, sondern auch so ganz tief in dir drin? Es fiel mir nur eben so ein. Manchmal würde ich gerne noch einmal dahin zurück.

Freitag, 21. November 2014

Ja, ich will

Du
woll'n wir noch hin und wieder
für ein Weißt du noch
den alten Ring betreten
ich will das Gute halten
und du
willst du das auch?
dann sag das Ja, ich will
das wir nie sagten
fünfundzwanzig Jahre lang
und ich
ich sag's dann auch

Mittwoch, 19. November 2014

Bestenliste

Hier, unter der Blogrubrik "Der Garten und seine Nischen", findet man ab sofort meine ganz persönliche Bestenliste. Sie ist alphabetisch sortiert und stellt weder (m)eine Rangfolge noch einen "Lesebefehl" dar. Bis jetzt enthält sie nur die Autorinnen und Bücher, die mir heute auf Anhieb eingefallen sind. Mit Sicherheit fehlen noch viele, die werde ich bei Gelegenheit nachtragen.
Ich habe alle mit Gewinn gelesen, zum Teil haben sie mein Leben und Denken geprägt. Das eine oder andere will ich unbedingt wiederlesen und werde das tun, sobald ich mir diesen Luxus erlauben kann. Zur Zeit geht das aus beruflichen Gründen nicht. Es gibt ständig soviel Neues, und ich muss auf dem Laufenden bleiben. Macht nichts, ich bin nicht nur nostalgisch und anhänglich, sondern zum Glück auch neugierig.

Dienstag, 18. November 2014

Kleine Grundsatzoffenbarung am Morgen

Heute: Was ich grundsätzlich nicht lese: 

Bücher und Artikel, die im Titel behaupten, sie würden darlegen, "worum es wirklich geht" und/oder was "die (eine) Wahrheit über ..." ist. Es gibt nicht wenige davon.
Mag sein, dass die Texte inhaltlich klug, weiterführend als andere und vielleicht echt differenziert sind. Mag sogar sein, dass ich es als lohnend empfinden könnte, sie zu lesen. Trotzdem behaupte ich, dass jedem/jeder, der/die einen solchen Titel wählt, mit Vorsicht zu begegnen ist. Die Anmaßung im Titel empfinde ich jedenfalls dermaßen stark, dass sich alles in mir dem Lesen des Artikels/Buches verweigert. 
Ich hoffe, das bleibt mir erhalten.

Eine Unterform dieses Grundsatzes ist die Verweigerung von "Lesebefehlen", wie sie im Internet ganz gerne erteilt werden, manchmal vielleicht einfach aus einer Überschwänglichen Begeisterung für ein Werk, die ich als sympathisch empfinden könnte, kenne ich eine solche doch von mir selbst. Dennoch steckt in dem Wort Befehl, auch wenn es evtl. nicht so scharf gemeint ist, wie es bei mir ankommt, eine für mich nicht akzeptable Anmaßung. Da reagiere ich mit einem starken Reflex der Verweigerung. Es gibt nichts, was gelesen werden muss. Punkt.

Freitag, 14. November 2014

in den Arm genommen

Ich werde ziemlich oft auf den Arm genommen. Von Freunden, Kolleginnen, meinen Kindern (denen macht das besonders viel Spaß!). Sie tun das liebend gern und meinen es in der Regel nicht böse. Dass ich so ein geeignetes Opfer bin, liegt nicht daran, dass ich Ironie nicht verstehen würde, sondern vielmehr daran, dass ich grundsätzlich bereit bin, alles zu glauben und für möglich zu halten. Naivität nennt man das. Ich begreife diese Eigenschaft, die sich nicht einfach abschalten lässt, schon lange nicht mehr als Schwäche, sondern als geheime Superkraft. Es ist viel schöner, mit einem Grundvertrauen als mit einem Grundmisstrauen durchs Leben zu gehen. Und abgesehen von den harmlosen Späßen, die man sich mit mir erlaubt, mache ich vor allem positive Erfahrungen mit dieser Haltung, die keine antrainierte, sondern eine angeborene und/oder in frühester Kindheit erworbene ist.

Der Titel dieses Blogposts lautet aber nicht auf, sondern in den Arm genommen.
Und das kam so:

Gestern war ich mal wieder bei meiner Friseurin. Wir kennen uns jetzt ungefähr fünf Jahre. Wenn ich das hochrechne, also circa sechs Friseurbesuche pro Jahr, diese mal fünf genommen, liegen wir bei etwa 30 Begegnungen. Da lernt man sich schon ein wenig kennen. Längst sind wir per du, kennen unseren jeweiligen Beziehungsstatus, wissen Bescheid über die literarischen Vorlieben, bevorzugten Urlaubsziele und politischen Einstellungen und haben schon so manches privat-persönliche Problemchen besprochen. Diese Gespräche, manchmal auch nur sanft plätscherndes Geplauder, gehören zum Rundumwohlfühlkomplex, den so ein Friseurbesuch für mich bedeutet. Zwei bis zweieinhalb Stunden Auszeit, gefüllt mit lauter Wohltaten von Kopfmassage und wohlriechenden Pflegeprodukten über Kaffee mit Bailey's und Gala lesen (wo sonst, wenn nicht hier?) bis hin zum perfekten Schnitt inklusive oben erwähnten Gesprächen. 

Gestern sprachen wir über das Neugeborene ihrer Kollegin, kamen von da auf die Fehlgeburt einer Freundin, die diese zunächst verschwieg, worauf wir zum Thema Tabu schwenkten, Tabuisierung von Krankheit, Tod und Trauer, aber auch anderen Dingen, wie sie zum Beispiel Eltern gerne vor ihren Kindern verbergen, diese aber doch spüren, dass etwas nicht in Ordnung ist und durch das inkongruente Verhalten der Eltern nachhaltig in ihrer (Selbst)Wahrnehmungsfähigkeit gestört werden. Und wie sich das alles fortsetzt durch die Generationen. Das bis heute unüberwundene Kriegstrauma, weitergegeben an die Kinder und an die Enkel. Dann kamen wir vom Verallgemeinernden wieder zum Persönlichen und wie wir das erlebt hatten mit unseren Eltern. Deren Abschottung, ihr Unvermögen, dessen verheerende Auswirkung auf uns als Kinder und so weiter. 

Am Ende empfahl ich ihr das Buch "Isabel & Rocco" von Anna Stothard, einer großartigen jungen britischen Autorin, die zur Zeit, gerade mal dreißigjährig, schon an ihrem vierten Roman schreibt. "Isabel & Rocco" hat sie mit siebzehn geschrieben. Eine Geschwistergeschichte, ein Roman über eine schwierige Eltern-Kind-Beziehung, in der sich die Eltern entziehen bis zum tatsächlichen Verschwinden. Isabel und Rocco, sechzehn und achtzehn Jahre alt, werden sich selbst überlassen, verschmelzen zu einer Einheit, vernachlässigen das Haus und sich selbst, wie sie von den Eltern emotional vernachlässigt wurden. Ganz spannend und klug geschrieben, sehr sinnlich, als Leser riecht und fühlt man regelrecht das Beschriebene, erotisch und ungeheuer einfühlsam.

Ja, so schweife ich hier ab. Zurück:

Am Ende, als ich bezahlte, nahm A., meine Friseurin, mich spontan in den Arm. Wir drückten und hielten uns ein Weilchen, länger als für eine Begrüßungs- oder Abschiedsumarmung üblich. Da steckten viel Wärme und ganze unausgesprochene, aber dennoch deutlich übermittelte Sätze drin: "Das war schön. Es tat gut, mit dir zu reden. Wir wissen umeinander. Danke. Es ist ein Glück, dich zu kennen. Hab es gut. Ich freue mich aufs nächste Mal." Und was wir aussprachen: "Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch! Wir sehen uns im neuen Jahr. Ciao, bis dann!" 

Die Nähe und Wärme nahm ich mit. Und dachte darüber nach, wie bedeutend Umarmungen sind und wie unterschiedlich in ihrer Aussage:

Die Umarmung der Kollegin am ersten Arbeitstag nach meinem Urlaub: "Schön, dass du wieder da bist!" "Hab ich euch gefehlt oder seid ihr auch ohne mich klargekommen?" "Natürlich sind wir ohne dich klargekommen, ..." "Na toll!" "... aber mit dir ist es schöner." ":-)"

Die Umarmung der fernen Freundin beim Wiedersehen: "Ich freu mich so, hab dich total vermisst, wir müssen uns ALLES erzählen."

Die spontane Umarmung eines noch nahezu Fremden bei Feststellung eines inneren Gleichklangs: "Hey du, das ist schön grade mit dir. Bin froh, dass wir uns begegnet sind."

Die Umarmung des Expartners (was für eine leere und unangemessen versachlichende Worthülse für 25 Jahre voller Höhen und Tiefen): "Gut, dass es dich gibt. Es war ganz schön hart die letzten Jahre. Bin so froh, dass das wieder geht, dieses Umarmen, dieser freundschaftliche Umgang. Und ein bisschen traurig ist es auch. Immer noch, nicht wahr? Eine Beziehung lässt sich nicht beenden, nie. Sie verändert sich nur, und wenn man Glück hat und sich Mühe gibt, lässt sie sich noch positiv gestalten. Danke für dich und dafür, dass ich das wieder sagen/denken/fühlen kann."

Die Umarmung der ausgeflogenen Kinder: "Du. Mein Kind. Auf immer."

Allen gemeinsam: Die menschliche Nähe, der Ausdruck herzlicher Verbundenheit.

Mittwoch, 12. November 2014

Schöne Worte (Fürsprache)

Sie können sich so wunderbar gebildet unterhalten, artikulieren so gekonnt und leicht, wofür unsereins im Konversationslexikon vor- und zurück- und wieder vorblättern müsste. Da kommen wir einfach nicht mit. Sprechen sie eine Gegensprache? So elegant, so präzise geschliffen sind ihre Dialoge, dass man förmlich die blank polierten Schuhspitzen zwischen den Zeilen hervorblitzen sieht und die mit den Initialen des Trägers versehenen Manschettenknöpfe. 
Entkleidet man sie allerdings und entledigt sie all dieser Zeilenzwischenraumaccessoires, weht einen ein milder Hautgeruch an, unter der Kopfnote einer exklusiven Seife, ein Hautgeruch ähnlich dem eines jeden Menschen: nach schmierig-blutiger Geburt, nach Verdauung und Schweiß, nach Leben eben, nach modrigem Tod.
Winden wir Kränze aus den schönen Worten, einen für ihr Haupt und einen für ihr Grab. Häufen wir Ruhm auf ihre Teller und füllen wir ihre Gläser mit Ehre bis zum Rand. Lassen wir sie hochleben, so hoch, dreimal hoch. Und lassen wir sie in dem Glauben, dass ihre und nur ihre Worte für die Ewigkeit gemeißelt sind. (Oder? Ich glaube, sie brauchen das.)

Gehen wir sodann über zum besonnt-beregneten Tagesgeschäft: Hey, schön dich zu sehn! Na du? Haste mal nen Euro? Sorry, ich muss los. Kommste mit auf'n Bier? Wie geht's denn so? Ach, wird schon wieder. Ich dich auch. Weißt du noch, damals? Mistwetter. Morgen ist auch noch ein Tag. Lass dich mal wieder blicken! Halt die Ohren steif! Wie gesagt: Ich dich auch. Wirklich? Wirklich.

Sonntag, 9. November 2014

Die Straßen meiner Kindheit 4 (und darüber hinaus)

Bruchstücke, unvollständig, unsortiert


Hierseinsberechtigung
Stadt meiner Mütter
die Luft, die ich atme, kennt mich noch
der Dom begrüßt mich mit HandSteinschlag
Wo warst du solange? fragen alle Straßen
und frage ich mich selbst
der alte Fluss fließt durch mich hindurch
überwältigendes Zuhausegefühl: das hatte ich so nicht erwartet



*


Da fanden sich zwei, geschlagen vom Krieg und konnten nicht miteinander und blieben dennoch zusammen. Der Rettungsversuch misslang. Was wusste man schon über das persönliche Leid des anderen? Was konnte man schon über das eigene sagen? Dieses fast gewalttätige aneinander Festhalten. Aus lauter Angst vorm Fallen. Das unerträgliche Geräusch der Stummheit. Die Unmöglichkeit einer echten Annäherung. Dieser Generationen währende Krieg, weit über sein Ende hinaus.



*


Ich habe Glück mit dem Wetter. Den einzigen komplett verregneten Tag verbringe ich im Museum. Kunst essen. Satt werden. Ansonsten durch die Straßen laufen, schlendern, bummeln, spazieren, das Laub hochwirbeln. Das Straßenpflaster und meine Fußsohlen: alte Vertraute, die ihre eigenen Wiedersehensgespräche führen: Weißt du noch, damals? Immer wieder Einkehr in Kunst- und Kinoräume, in Restaurants, Cafés und Imbisse, Eintauchen in den kölschen Singsang (wie ich den liebe). Hin und wieder verlaufe ich mich oder schlage absichtlich andere Wege ein als geplant, weil mich der Anblick einer Häuserreihe reizt oder Stimmengeräusch oder irgendein Duft, der irgendwoher weht. Baden in einer Mischung aus Wehmut und fröhlichem Selbstverständnis. 


*


Nachsinnen über Heimat, über Prägung, über Zugehörigkeitsgefühl, über Alleinsein und Einsamkeit. Nachdenken über Wahlmöglichkeiten, über Weichenstellung, über Entscheidungen, die nicht richtig oder falsch sind, sondern gut allein dadurch, dass sie getroffen werden. Die verschiedenen möglichen Leben und das eine gelebte. Der riesige Berg und die vielen kleinen Schritte. Das Dunkel und der Ausblick. Die Ideen und der fehlende Mut. Die leeren Hände. Der unformulierbare Wunsch. Das große Ach.


*


Gedankenbruch, unsortiert.
Warum gelingt es mir schon seit einiger Zeit so gar nicht mehr, von mir abzusehen?
Schreib mal wieder ein Gedicht, denke ich mir. Oder schreib endlich an der Vogelfrau weiter. Nein? 
Wie das Schreiben und das Leben einander in die Quere kommen können und wie doch das eine das andere nährt.
Ich falle so ganz und gar in einen tiefen Herbst hinein. (und will das nicht bewerten, sondern einfach mal so annehmen)


Samstag, 8. November 2014

Die Straßen meiner Kindheit 3

Eine Woche Köln in Stichworten:

- Montag hin mit dem Zug

- Zweimal Museum: Museum Ludwig und Käthe-Kollwitz-Museum

- Zweimal Kino: Like Father, Like Son und Mr. Turner

- Ein ganzer Tag in meiner nächsten Kindheitsumgebung einschließlich alter Arbeitsstelle meines Vaters, wir hatten eine Dienstwohnung auf dem Gelände; Sturm von Erinnerungen

- Man lebt ja nicht allein von Luft und Erinnerungen: Klasse asiatischer Imbiss im Belgischen Viertel, lekker belgische Fritten auf der Hohe Straße, Kännchen Kaffee und Törtchen im überaus gemütlichen Café Wahlen, gut bürgerlicher Mittagstisch im Alten Brauhaus auf der Severinstraße et cetera pp.

- Unzählige Straßen und Stunden gelaufen, nur einmal 4 Stationen mit der Tram, weil ich echt nicht mehr konnte, und die dann schwarz, weil der Ticketautomat mein 2,-€-Stück immer wieder ausspuckte

- In einige sehr unterschiedliche Buchläden reingestöbert, Kolleg_innengespräche geführt, Anregungen getauscht

- Viel gesehen, viel nachgedacht, ein paar nette Begegnungen genossen; Notizbüchlein bis zur letzten Seite vollgeschrieben, einiges davon wird hier sicher noch einfließen

- DB-Rückfahrticket storniert, Busticket gekauft, in drei Stunden geht's los


Ach, und die Ahornblätter, die ich im ersten Kindheitsstraßentext erwähnte, sind in Wirklichkeit natürlich Platanenblätter!

Freitag, 7. November 2014

Käthe Kollwitz oder: Berührt

"Mag man tausend Mal sagen, daß das nicht reine Kunst ist, die einen Zweck in sich schließt.
Ich will mit meiner Kunst, solange ich arbeiten kann, wirken."

Käthe Kollwitz, 29. Dezember 1922


Was will ich mit einer Kunst, die mich nicht berührt? Nicht im Sinne von streichelt, Wohlgefühl erzeugt, einlullt. Nein. Sondern im Sinne von anstößt, aufrüttelt, weckt, in Bewegung setzt. Also vielleicht eher bewegt statt berührt. Aber auch dieses bewegt hat manchmal so einen seltsam gefühligen Beigeschmack. Vielleicht also eher anfasst. Oder packt. Irgendein Begriff, der auch etwas stark Körperliches beinhaltet. Etwas, das mich als ganzen Menschen anspricht, nicht nur die Emotion, sondern auch Geist und Körper. Ich will nicht nur fühlen, sondern auch denken und spüren. Jedenfalls hat Käthe Kollwitz mich in diesem umfassenden Sinne berührt.


Käthe Kollwitz arbeitete 18 Jahre lang an den trauernden Elternfiguren als Gedenkmal für den 1914 gefallenen Sohn Peter. Er hatte sich mit 18 freiwillig gemeldet, gegen den Willen des Vaters, aber unterstützt von der Mutter, die sich stets solidarisch mit den Söhnen zeigte und nichts mehr wollte als deren freie Entfaltung. Bereits am ersten Tag seines ersten Einsatzes fiel Peter, von einer einzigen Kugel tödlich getroffen.
Der Wandel, den Käthe Kollwitz in den darauf folgenden Jahren durchmachte - von einer überzeugten Patriotin hin zu einer noch tiefer überzeugten Pazifistin und Internationalistin - dieser Wandel ist in den vielen graphisch und gestalterisch dokumentierten Schritten und Überlegungen, den Durchlebungen eigentlich des Trauerprozesses, des Schuldgefühls, der Ohnmacht und des Aufbegehrens nach dem Tod des Sohnes deutlich erkennbar. Wirken die ersten Entwürfe der Skulptur noch wie zusammengekauert in eine elterliche Trauereinheit, die geschlagen ist und sich ohnmächtig ergibt, so entfalten sich die Figuren im Laufe der Jahre zu zwei einzelnen, ähnlich in ihrer Körperhaltung und doch verschieden, einander zugewandt, klar durch ihre Trauer um den einen Menschen miteinander verbunden, aber dennoch jede für sich tief getroffen und stark in sich selbst. Die anfangs passiv ergebene Haltung hat sich in eine aktive verwandelt. 
Kollwitz hat zahlreiche Skizzen zu Details vor allem der Hände und Arme hergestellt auf der Suche nach genau dem richtigen Ausdruck. Zum Glück sind diese Skizzen und Entwürfe (nicht alle, manche hat sie selbst zerstört) eines langen Schaffensprozesses erhalten. Denn nicht erst das abgeschlossene Werk zeigt diesen einen richtigen Ausdruck, nach dem sie gesucht hat, sondern schon jeder einzelne Entwurf zuvor bildet die Schritte eines langen Prozesses deutlich und genau ab. Jeder einzelne bildnerische Versuch trifft es und stellt einen Abschnitt auf dem Weg des Trauerns und des Überdenkens der eigenen politischen Einstellung dar. 
Die Skulptur, die am Ende dieses Weges steht, versinkt nicht mehr im ohnmächtigen Schmerz über den Verlust, sondern ist in ihrer Trauer zugleich auch eine Absage an die angebliche Unvermeidlichkeit, eine Absage an alle Kriegstreiber. Die Elternfiguren in ihrer unterschiedlichen Haltung - beide kniend und mit vor der Brust verschränkten Armen, der Vater aufrecht, die Mutter nicht mehr gebeugt, sondern sich beugend (was für ein Unterschied und was für eine Kunst, diesen darzustellen!) - trauern nun für sich um ihren Sohn, nicht um einen Kriegshelden. Sie nehmen ihn rückwirkend in Schutz vor der Vereinnahmung durch die Kriegsmaschine, nehmen ihn sich zurück, den Sohn, auf den kein Kriegstreiber ein Anrecht hat. Die Mutter in später Einsicht ihres patriotischen Irrtums, vielleicht auch um Vergebung bittend. Der Vater unerbittlich in seiner schon zuvor ablehnenden politischen Haltung. Sie unterwerfen sich nicht länger, höchstens dem Tod und dem Leben, aber keiner menschlichen unmenschlichen Macht.

Mich hat das tief beeindruckt, ebenso wie ihre anderen Werke. Und wie aktuell diese gerade (wieder) sind (oder eigentlich immer, wenn wir global denken und vor allem hinsehen): Die Auseinandersetzung mit dem Krieg durch Darstellung des unermesslichen Leides, des Verlustes, des Todes!, all dessen, was die bloße Erwägung kriegerischer Handlung als probates Mittel zur Lösung von Konflikten als absurd und zutiefst inhuman entlarven müsste. 
Kunst kann das. Wirken. Sie darf das. Vielleicht muss sie es sogar. Aber das wage ich dann doch nicht so sicher zu behaupten.

Donnerstag, 6. November 2014

Die Straßen meiner Kindheit 2

Als ich gestern Abend zurück ins Hotel kam, taten mir die Füße weh. Macht aber nix und ist heute früh schon wieder vergessen. Meine Stadt ist schön. Und sie will im Gehen erfahren werden. (Man beachte das Wortspiel!) Stundenlang bin ich durch die Straßen spaziert, habe gierig alles aufgesogen, konnte gar nicht mehr aufhören, bis mir, wie gesagt, irgendwann die Füße wehtaten.


Keine andere Stadt kann ich so selbstverständlich als "meine Stadt" bezeichnen wie Köln. Vielleicht annähernd noch Berlin, mir auch von klein auf vertraut, weil mein Vater dort her kam, ein Teil seiner Familie bis heute dort lebt, wir mindestens einmal im Jahr ein bis zwei Wochen dort verbrachten und ich seit Jahren wieder regelmäßig Zeit da verbringe, liebgewonnene Menschen treffe, Freunde, alle durchs Internet kennengelernt. Thank you technischer Fortschritt! 
Aber in Köln bin ich geboren, im Krankenhaus in Köln-Kalk. Als ich zwei war, zogen wir an den Karthäuserwall. Die Südstadt, das Severinsviertel - diese Ecke vor allem prägte mein Bild der Stadt. Natürlich auch der Dom, der Rhein, Heinzelmännchenbrunnen, Brauhaus, 4711 ...
Wir zogen um nach Hagen, da war ich acht und kam in die dritte Klasse. Ein Jahr später nach Saarbrücken, vierte Klasse. Nicht schön, diese vielen Umzüge, aber das ist ein anderes Thema, oder nein, natürlich auch Bestandteil des Themas Heimat, aber aktuell nicht der Aspekt, der mich hier in meinem Urlaub beschäftigt. Dass die gesamte Familie meiner Mutter in Köln blieb, ließ uns die Verbindung zur Stadt halten, in den Sommerferien waren meine Schwester und ich regelmäßig bei einer Tante zu Besuch, die selbst kinderlos geblieben war und uns restlos verwöhnte. Erst mit der Gründung meiner eigenen kleinen Familie wurden die Heimatbesuche spärlicher, brachen irgendwann ab. Wir leben tief im Süden, auch schön da, Nähe zur Schweiz und zu Frankreich. Nur das Meer ist so weit weg! Alle Meere. 
Jedenfalls ist es schon ein paar Jahre her, seit ich das letzte Mal in Köln, in meiner Stadt war.

Gestern alles wie geplant: Kaffee, Käthe Kollwitz, Kurrywurst, kurze Pause, Konditorei-Café, Kino, Kommunikation, kein Kölsch (ich vertrage leider kein Obergäriges)
Später mehr, ich habe viele Notizen gemacht unterwegs, zahlreiche Erinnerungen stellten sich ein, nicht nur eigene, interessanterweise, sondern auch Erinnerungen meiner Eltern, meiner Mutter vor allem, mein Vater erzählte nie viel, eigentlich so gut wie nichts, leider. Erinnerungen an die letzten Kriegsjahre. Bestimmt ausgelöst durch den Besuch des Käthe-Kollwitz-Museums. Und durchs Gehen. Das setzt viel in Bewegung.
Aber wie gesagt: Später. Jetzt will ich wieder los.

Dienstag, 4. November 2014

Die Straßen meiner Kindheit

durch die Straßen meiner Kindheit weht ein jahrzehntealter Wind, ich quere den Platz mit dem raschelnden Ahornlaub, werde grundschulkindklein im vertrauten Duftgemisch aus U-Bahnschacht und Streuselstreifen von Merzenich, schmiege mich in den vertrauten Singsang des heimatlichen Dialekts und in die warme Kontur meiner alten Stadt ... wo ist mein Zuhause?


*


Die Straßen meiner Kindheit. Bin seit Jahren erstmals wieder hier. Gestern, am Tag meiner Ankunft, noch ein wenig umhergeirrt. Schon heute kannten sich meine Füße wieder aus. Auch meine Augen und Ohren. Und die Nase erst!
Wegen Dauerregens sechseinhalb Stunden Museum Ludwig. Guuute Entscheidung. Kunst kucken sortiert mich immer aufs wunderbarste.
Für morgen plane ich einen K-Tag. Muss so in der Stadt mit K.: Auf jeden Fall wieder Kunst kucken: diesmal Käthe Kollwitz; später Kaffee, aber nicht bei Kamps, sondern in einer schönen Konditorei, ich habe das Café Eigel in dunkler, aber guter Erinnerung; Kino vielleicht; Kölsch und Kurrywurst (oder Reibekuchen ...); Kommunizieren? Man kann nicht nicht kommunizieren in einer Stadt voller Menschen.

Am Donnerstag soll das Wetter besser sein, dann will ich ausgedehnt spazierengehen, das Haus aufsuchen, in dem ich aufgewachsen bin, durch den Volksgarten schlendern. Von dort ist uns damals ein Entenpaar zugeflogen und geblieben. Mein Vater hat ihnen im Garten einen Miniswimmingpool gebuddelt. Das Weibchen hat Eier gelegt, denen die harte Kalkschale fehlte. Windeier. Da gab's leider keinen Nachwuchs. 
Vielleicht finde ich auch noch den Weg zu meiner alten Grundschule. Frau Weihrauch-Kollenbusch, so hieß meine Lehrerin. Kein anderer Name blieb mir seither so gut im Gedächtnis. "Sich selbst bekämpfen ist der allerschwerste Krieg; sich selbst besiegen ist der allerschönste Sieg. von Friedrich von Logau", hat sie mir in mein in grünen Cordsamt gebundenes Poesiealbum geschrieben. Auch das weiß ich bis heute auswendig. Einmal sollte ich nachsitzen, weswegen, weiß ich nicht mehr. Da behauptete ich glattweg, zum Zahnarzt zu müssen. Ob sie mir glaubte? Jedenfalls ließ sie mich gehen, und ich kam mir ungeheuer verwegen vor mit meinen sechs, sieben Jahren. 
Ach, damals ...

Samstag, 1. November 2014

geheime Formel

Das war ein Sommer, den sie unter einem Strauß gebündelter Sonnen durchlebte. Sie maß die Zeit in nicht endenden Belichtungen warmer innerer Bilder. Kein einziger Gedanke an mögliche Notwendigkeiten, beispielsweise solche, die eine wie auch immer geartete Zukunft betrafen. Ein Begriff wie Zukunft bleibt ungefüllt, vollkommen abstrakt in Zeiträumen, die das Innere ungeheuer heller, ungeheuer weicher Kugeln bilden. Sie konnte nicht linear denken in diesem Sommer, der zwar einen Verlauf darstellte, aber weder irgendwoher zu kommen, noch irgendwohin zu führen schien. Das ist ewig, dachte sie und wusste um den Wahrheitsgehalt dieses Gedankens und zugleich um die Unmöglichkeit einer Beweisführung. Am Ende des Sommers trat sie aus der Kugel heraus und verleibte sie sich ein, mitsamt ihres ewigen Inhalts. Drinnen ist genauso viel Platz wie draußen, dachte sie, und zwar auf den Kubiknanometer genau. Und wusste auch hier um den Wahrheitsgehalt wie um die Unmöglichkeit eines Beweises. Was war, bleibt. Für immer. So lautet die Formel. Mag sein, dass sie top secret ist.