Freitag, 23. Mai 2014

Margriet de Moor

Mein Exemplar des Romans "Erst grau dann weiß dann blau" von Margriet de Moor, den ich mir 1993 sofort bei Erscheinen kaufte und den ich bereits mehrere Male gelesen habe, der zu den für mich persönlich wichtigsten 10 Büchern gehört, dieser Roman, also mein Exemplar davon, trägt seit Mittwoch Abend auf dem ersten Blatt, gerahmt von meinen Initialen und einer von mir notierten Seitenzahl, das vorgestrige Datum und den Namen der Autorin, handschriftlich mit Füller von ihr eingetragen. Ich bedankte mich bei ihr für die wundervolle Lesung aus ihrem aktuellen Roman "Mélodie d'amour" und sagte ihr, dass mir ihr erster Roman sehr viel bedeutet hat. Dass er mir anteilig Lebensretter war, mir half, meine Integrität wiederzuerlangen bzw. das Recht, um sie zu kämpfen, das sagte ich natürlich nicht. Zuviel Pathos, vor allem für diesen kurzen zur Verfügung stehenden Moment innerhalb einer Schlange von Menschen, die mit einem Buch in der Hand darauf warten, ebenfalls einen kurzen Moment der Zweisamkeit mit der Autorin zu erleben. Für einen Blick in freundliche blaue Augen, einen kurzen Austausch über einen Tisch hinweg. "Was soll ich schreiben?" - "Einfach für ..." - "Gerne. Danke für Ihr Kommen." - "Danke. Vielen Dank."

"Wen wird es stören, daß ich zwischendurch auf eine Landschaft schaue, die niemand außer mir kennt, und mir Dinge ins Gedächtnis rufe, an die zu denken angenehm ist, stolze, barbarische, persönliche Dinge, die ich nie, mit wem auch immer, teilen können werde ..."
Dieser Satz steht auf der Seite, die ich mir vor etwa zwanzig Jahren vorne im Buch notiert habe. Es ist mein Lieblingssatz, zugleich Essenz des Romans. Für mich.
Magda, die Hauptperson verschwindet eines Tages, ohne ihrem Mann oder dem befreundeten Ehepaar eine Nachricht zu hinterlassen. Sie spürte schon lange, 
"daß sich ganz in der Nähe des Lebens, in dem man zufällig gelandet ist, ein anderes befindet, das man seelenruhig genauso gut hätte führen können."
Zwei Jahre lang ist sie unterwegs. Zwei Jahre intensiven Lebens und Erlebens, in denen wir als Leserinnen sie begleiten. Dann kehrt sie zurück, so unauffällig, wie sie verschwunden ist, und nimmt ihr altes Leben wieder auf, als sei nichts gewesen. Kein Wort erzählt sie über die Zeit ihres Fortseins, niemand erfährt etwas. Schwer auszuhalten vor allem für Robert, ihren Mann, schwer bis zur Unerträglichkeit. 
Und das bleibt auch für uns Leser, die wir Magdas Reise ja miterleben durften, ein Geheimnis: Warum sie so gar nichts erzählen will und kann. Ein Geheimnis, das vielleicht ein wenig erklärt wird durch die oben zitierte Textstelle. Es sind Gedanken, die Magda auf der Rückreise, kurz vor der Ankunft durch den Kopf gehen. Verständlich, dennoch ein Rätsel, letztlich unlösbar. 
Was für ein Geschenk, wenn ein Buch seine Leserin mit einer offenen Frage zurücklässt. Einer Frage, die über das eigentliche Romangeschehen hinausgeht. Wie eine im Innern geöffnete Tür in ein fremdes Draußen. Aber immerhin: eine Öffnung, ein Draußen!


Also wirklich, jetzt schreibe ich statt über den neuen Roman von Margriet de Moor, der schließlich Gegenstand der Lesung war, über ihren ersten. Und statt den aktuellen signieren zu lassen, hielt ich ihr das alte Buch mit dem halbzerfledderten Umschlag hin. :-)
Ich habe den neuen Roman noch nicht gelesen, das werde ich jetzt tun. Margriet de Moor hat große Teile aus dem ersten Abschnitt vorgelesen. Das Gehörte gefiel mir gut. Ich mag ihre Art zu formulieren, zurückhaltend, auf den Punkt, mit leisem Humor. Übrigens spricht sie perfekt Deutsch, erzählte auch, dass es in ihrer Kindheit noch üblich war, dass an niederländischen Volksschulen die drei Fremdsprachen Englisch, Französisch und Deutsch unterrichtet wurden, und dass ihr Vater, selbst Schulleiter, das Deutsche liebte und es in ihrer Familie nicht die sonst verbreiteten Vorbehalte gab. 

Margriet de Moors Romane sind auch und im Grunde musikalische Kompositionen. Beim aktuellen Buch vergleicht sie die Handlungs- und Erzähltempi der vier Teile mit Musiktempi wie Allegro, Andante, Presto ... 
Stark spürbar war dieses musikalisch-kompositorische übrigens auch in "Sturmflut", der Geschichte zweier Schwestern, die einen Abend lang die Rollen tauschen, ein Spiel mit dramatischen Folgen, denn es ist das Datum der großen Flutkatastrophe 1953, bei der fast 2000 Menschen ums Leben kamen. In gegenläufigem Tempo werden dann das kurze, auf letzte 36 Stunden beschränkte Leben der einen Schwester und das lange, bis zum 85. Lebensjahr fortdauernde der anderen erzählt. Für mich neben "Erst grau dann weiß dann blau" der stärkste Roman de Moors.

Und nun "Mélodie d'amour" - Liebeslied. Ein Roman, der aus vier für sich stehenden Erzählungen besteht, lose miteinander verknüpft durch die Personen, die in einem Teil eine Hauptrolle, in einem anderen Teil eine Nebenrolle spielen. Gelesen hat die Autorin aus der ersten Erzählung. In der geht es um Gustaaf und Atie, seine Frau, die er noch immer innig liebt, obwohl er sie einst betrogen hat. Die Erzählung beginnt mit Aties Tod und beschreibt dann im weiteren rückblickend Szenen aus der Ehe der beiden, ihr tatsächlich vorhandenes Glück, Momente der Zärtlichkeit und Verbundenheit, das Nachdenken über die langsame Veränderung des körperlichen Begehrens, über Krankheit, Untreue, Duldung, das Kippen an einem nicht wirklich bestimmbaren Punkt ... Es ist ein Roman über die Liebe in ihren verschiedenen Spielarten und als Kraft, die sowohl beglückend und heilsam als auch verstörend und zerstörend sein kann.

Margriet de Moor bezauberte am Mittwoch Abend ihr Publikum. Mit ihrer Stimme, dem liebenswerten holländischen Akzent. Mit der Art, wie sie sich irgendwie tänzelnd zwischen dem Zweiertisch auf dem Podium und dem Stehpult, an dem sie las, bewegte. Im Gespräch mit Bettina Schulte, Redakteurin der Badischen Zeitung, die den Abend moderierte und der sie ständig widersprach oder die Antwort verweigerte. Statt sich auf Bewertungen einzulassen ("das ist doch ein Glück; das ist böse; ... das ist sowas wie ein Omen; ... ") oder auf Fragen einzugehen ("Warum reagiert er/ sie so? ... War das der Punkt, an dem es kippte? ..."), erwidert de Moor Dinge wie: "Es ist nicht gut oder schlecht oder ein Zeichen, es ist einfach." oder: "Das weiß ich auch nicht. Ich kann nur vermuten; ich glaube es ist so und so". Sie ist all ihren Figuren innig zugeneigt, aber sie gibt nicht vor, sie bis ins Innerste zu kennen. Das fällt mir in all ihren Büchern auf: Die Integrität, die sie den Figuren verleiht, indem sie eine Grenze des Respekts zieht und nicht jeden Seelenwinkel grell ausleuchtet. 
Desweiteren spricht sie vom Dreiecksverhältnis Autor - Buch - Leser, das ihr gerade in diesem Gespräch wieder so deutlich vor Augen geführt werde. Zwei Jahre lang habe das Buch allein ihr gehört. Nun sei es aus dem Haus wie erwachsene Kinder und mache, was es wolle. Und die Leserschaft dürfe ebenfalls machen, was sie wolle, mit dem Buch. Jede einzelne Leserin dürfe sich Fragen zum Buch stellen und sich diese dann auch selbst beantworten. ... 
So das Erinnerte sinngemäß. Es war ein schöner, lebhafter Abend mit einem vollen, runden Nachklang.

Wer mehr über Margriet de Moor erfahren möchte: Es gibt eine Website, die Wissenswertes zu Biographie, künstlerischem Hintergrund und ihren Büchern bietet. Hier.

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