Sonntag, 9. Februar 2014

"Liebe M.!" (Jutta Piveckas „Punk Pygmalion“ – eine Buchansherzlegung)

"Mein Leben lang habe ich gewusst, dass die, die mich lieben, mich kennen wollen. Wie es sich anfühlen mag, wenn dem nicht so ist, kann ich mir nicht vorstellen."
 schreibt M. auf Seite 100 in Jutta Piveckas Briefroman "Punk Pygmalion".


*
 
"Punk Pygmalion" liegt seit ein paar Wochen gedruckt vor, in einer schönen Aufmachung, herausgegeben vom kleinen feinen Verlag edition taberna kritika.
Besonderheit: Enstanden ist der Roman zwischen 2010 und 2012 als fortlaufende Erzählung in Melusine Barbys (aka Jutta Pivecka) Blog Gleisbauarbeiten. Ich habe die Geschichte bereits dort mit großer Spannung verfolgt und fand es großartig, sie nun gebündelt und in gedruckter Form noch einmal lesen zu können.



M. ist die fiktive Bloggerin und Ich-Erzählerin des Briefromans. Ihre oben zitierten Sätze sind für mich, für meine Lesart, ein Schlüssel. M. formuliert damit in meinen Augen das, was sie antreibt, warum sie "es" aufschreibt, aufschreiben muss: Sie will wissen, wie es ist; sie will es vor allem fühlen. Und sie liebt, deshalb will sie kennen, ihre Nächsten wie sich selbst.

Worum geht's? 
M., verheiratet, zwei Kinder, erhält von ihrer alten Freundin Emmi ein Paket Briefe. Diese stammen aus den 80er Jahren und wurden verfasst von Ansgar, einem Steinmetz aus Dänemark. Die beiden hatten eine kurze leidenschaftliche Begegnung, anschließend einen Briefwechsel über mehrere Jahre. Emmis Briefe fehlen. Sie bittet M. um Veröffentlichung von Ansgars Briefen in M.s Blog und um das Schreiben eines Happy Ends für die Geschichte. 
Ansgar ist Punk Pygmalion. Steinmetz, Bildhauer. Ein Getriebener, der sich verzehrt, der mit seinen Pranken nicht nur Stein unterwirft und formt. Ein Suchender, der Heuchelei nicht erträgt, der aufbegehrt. Der sowohl in seiner Kunst als auch in seinem Leben nach Echtheit strebt. Der Frieden und Erfüllung nur in Momenten körperlicher Vereinigung, der Verschmelzung, des Aufgehens ineinander findet. Sowohl  Emmi als auch M. sind angesteckt von seiner Unbezähmbarkeit, seinem wütenden Hunger.
Jetzt, fast 30 Jahre später, soll M. also die Geschichte aufschreiben. Sie benötigt zwei Jahre dazu, 2010 bis 2012. Es sind Jahre des Nachforschens. So macht sie z.B. ausfindig, dass Ansgar aus einer früheren Affäre einen Sohn hat, Lars. Sie trifft sich mit ihm, die Ähnlichkeit der Männer ist verblüffend. Auch Lars ist Bildhauer, bestrebt, das Werk seines Vaters zu vollenden bzw. eine Erwiderung zu schaffen. 
Aber nicht nur nach Fakten und zeitlichen Abläufen forscht sie, sondern vielmehr auch nach Beweggründen, nach den Umständen, die einen zu dem machen, der man ist, mit all seinem Mangel und Sehnen, Vermögen und Unvermögen.
Es ist verzwickt. Bald schon gerät man als Leserin in Zweifel darüber, ob M. tatsächlich alles so erzählt, wie es war, ob sie nicht an den Fakten dreht, Handlungen anderen Personen zuschreibt ... Aber warum? Was ist ihr Part in der Geschichte? Was lässt sie so ungeheuer betroffen sein? Und: Treibt sie ein Spiel? Wenn ja, mit wem? Emmi? Ansgar, Lars? Mit uns als Lesern? Was ist wahr und was die Definition davon?

*

Ich habe beschlossen, einen Brief an M. zu schreiben und diesen in meinem Blog zu veröffentlichen. Vielleicht findet sie ihn dort.

*

Liebe M.!

Du kannst/ konntest es dir nicht vorstellen. Aber du wolltest es wissen, nicht wahr? Wolltest wissen, wie es ist, wenn man nicht auf diese Weise geliebt wurde. Wolltest der auf die Spur kommen, die dieses Kümmern, das stete verlässliche Interesse nicht erlebt hatte. Wolltest ihr nicht nur auf die Spur kommen, ihr nahe sein, um sie deutlich, aber immer noch von außen, zu sehen. Nein, du wolltest sie sein, so gut es eben ging. Und dir selbst wolltest du auf die Spur kommen. Das vielleicht noch dringlicher?
Das hat dich umgetrieben, nicht wahr? All die Jahre. Und die Briefe, die sie dir übergab mit der Bitte, sie in deinem Blog zu veröffentlichen, schenkten dir die Gelegenheit, noch einmal hineinzuschlüpfen in die Geschichte, die sich vor knapp 30 Jahren zugetragen hat. Und nicht nur in die Geschichte hineinzuschlüpfen, in die alte Zeit, sondern auch in sie, Emmi, die dir die Briefe anvertraute und dich bat, dem ganzen diesmal ein Happy End zu verleihen; und auch in dich selbst noch einmal hineinzuschlüpfen.
Wusstest du, worauf du dich da einließest?

Du begannst zu erzählen, Stück für Stück, begannst 2010, veröffentlichtest in Abständen von mehreren Wochen, manchmal sogar Monaten Emmis Briefe. Die Briefe, die Emmi gehörten, aber nicht von ihr stammten, sondern von dem Mann mit den zärtlichen Pranken: Ansgar. Der so fest zupacken konnte mit seinen Nehmerhänden. Der forschte und formte, der herausholte und hinzufügte, der so ansteckend hungrig war. Hungrig genug, um einen Stein zu lebendigem Fleisch zu kneten. Fast. Denn seinen Hunger endgültig zu stillen, gelang ihm nie. Das trieb ihn weiter, das machte ihn anziehend und abstoßend zugleich. Einer auf Beutefang, nicht satt zu kriegen.

Wie gern sich eine verzehren lässt/ ließe, die ein anderes Interesse nicht kennengelernt hat, und die deshalb einen tiefen Mangel fühlt. Fühlen muss. Wie sehr sie sich aber nicht nur nach Leidenschaft verzehrt, sondern vor allem nach Liebe in Bindung sehnt; wie sie diese Bindung aber gleichzeitig nicht zu leben vermag. Das siehst, erahnst du, spätestens im Rückblick, nicht wahr, liebe M.? 
Emmi, die Freundin seit Kindertagen, das Mädchen mit den vielen Freiheiten, mit den Eltern, die sich mehr für Kunst und Politik interessieren, als für ihre eigene Tochter (so scheint's). Eltern, die ihr Kind lassen, es sich selbst überlassen. So frei, so ungeheuer frei. Wie sehr du sie beneidet hast.
Und wie gern sich eine verzehren ließe/ lässt, die stets umsorgt war (so war es doch und ist es noch, nicht wahr, liebe M.?). Eine, die eine selbstlose Liebe kennengelernt hat, eine fürsorgliche Liebe, die selten etwas von ihr, aber stets das Beste für sie wollte. Oh, diese verdammte Geborgenheit! Diese öde Beständigkeit! Dieser Mangel an Rausch!

Du brauchtest zwei Jahre, von 2010 bis 2012, um diese Geschichte zu einem Ende zu bringen. Denen, die dein Blog lasen und voller Spannung auf Neuigkeiten von Emmi, Ansgar, Lars und dir warteten, wurde einiges an Geduld abverlangt. Wenn ich nun das Ganze in Buchform vor mir liegen habe, erscheint es mir fast seltsam, dass die Lesezeit weniger beträgt als die Schreibzeit. Jede Neugier, jeder Hunger wird ohne Verzögerung befriedigt. Da, wo es vorher galt, die eigene Ungeduld zu bezähmen, bedarf es nun lediglich eines Seitenumblätterns. Das hat durchaus Vorteile: Die Spannung ebbt nicht ab, die Zusammenhänge werden deutlicher, es ist leichter, der verzwickten Geschichte, dem Wechsel der Erzähl- und Zeitebenen zu folgen.

Liebe M., deiner Geschichte zu folgen, geht nicht ohne Aufgabe von Distanz und Selbstschutz. Jedenfalls was mich betrifft. Und dass es tatsächlich deine Geschichte ist, mehr als Emmis, mit deren Briefen es begann, wird nach und nach deutlich. Du treibst ein Spiel auf mehreren Ebenen. Ja, du willst es wirklich wissen. Keine verfügbare Rolle, in die du nicht wenigstens probehalber schlüpfst. Ein Verwechslungsspiel, ein Tausch, ein Vermischen von Fiktion und Realität. Ein Konglomerat aus dem, was war und dem, wie es hätte sein können. Aber niemals Lüge. Alles, auch die Masken, auch die Umschreibungen dienen letztlich der Wahrheitsfindung. Denn du willst dich nicht länger mit Vermutungen und Deutungsversuchen zufriedengeben, liebe M. Du willst es endlich wissen. Du willst kennen.

Am Ende sind wir alle klüger. Nicht wegen der gegebenen Antworten, sondern wegen der zusätzlich aufgeworfenen Fragen. Die uns befreien aus der Enge unserer selbstgezimmerten Deutungssicherheit.
Es bedarf der Fiktion, um der Wahrheit, die in den Ereignissen verborgen liegt, auf die Spur zu kommen. Und es bedarf eines Talents für diese Art der Spurensuche. Das besitzt du in großem Maß, liebe M.

Herzlich, eine Leserin

*

"Wirklichkeit und Fiktion. Da passt bei dir kein Blatt dazwischen."
sagt Lars, Ansgars Sohn auf Seite 125 zu M.

 "Ich nehme das als Kompliment."
 erwidert M. 

*

Punk Pygmalion ist ein großartiger Roman, er ist sehr besonders durch die Art seiner Entstehung, befriedigend in seiner Klugheit wie in seiner Rätselhaftigkeit. Er ist viel klüger, als ich es bin. Weshalb meine Lesart nur eine bruchstückhafte, ganz subjektive sein kann. 
Am Ende bleibt manches offen. Das ist dem Respekt vor den Figuren geschuldet, so interpretiere ich es; letztlich bleiben sie unvereinnahmt. Man kann sie nicht vollkommen kennen, so sehr man es vielleicht auch möchte. Aus welchen Beweggründen auch immer.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen