Sonntag, 5. Mai 2013

Singen (nach dem Traum 8)

Ich will sie so gern singen hören! 
Ich brenne darauf, dass sie endlich aufwacht, kann mich manchmal kaum noch beherrschen und bin kurz davor, sie zu wecken. Ganz sanft, natürlich! Mit einem winzigen Schubs nur. Sachte übers Gefieder blasen. Oder einem zärtlichen Kuss auf das kleine Köpfchen, durch das uns unbekannte Träume ziehn. 
Aber dann scheue ich doch jedesmal davor zurück. Nicht immer bedarf es dazu deines Blicks, der sagt 'Hab Geduld. Lass sie. Es wird von selbst geschehen, eines Tages.' 
Also lassen wir sie schlafen. Und schlafen.
Was hat diesen kleinen Vogel bloß so unendlich müde gemacht?

Ich habe mir angewöhnt, mich in deinen Blick zu betten, der sich darbietet wie ein sanftes Lager. Dort vergesse ich mein Spiegelbild und die Ordnung meiner Züge und meiner Haltung, deren gründliche Überprüfung und Zurechtrückung zu meiner täglichen Routine geworden waren. Ich lasse mich aus dem Rahmen meines selbstkritischen Schauens in dein abstrichlos annehmendes fallen.
Als ich dich einmal fragte, wo du diesen Blick erlernt habest, erwidertest du, es sei nicht nötig gewesen, ihn zu erlernen, da du ihn nie verlernt habest. Und ich dachte an meine Jahre zwischen den Mauern, in denen ich unfassbar viel verlernt haben musste. Das Gegenteil hatte ich für wahr gehalten, hatte doch all dies Verlernte ein immenses, Bedeutung vorgaukelndes Gewicht, so dass es sich anfühlte wie ein ungeheurer Lernreichtum.

Aber erst jetzt und durch dich lerne ich wirklich, indem ich mich von dir zu etwas zurückführen lasse, das einmal dagewesen sein muss. Vor der großen Erweckung, die in Wahrheit eine Einschläferung war. 'Ja? War sie das?', fragt etwas in mir. Inzwischen denke ich, dass es so war. Frage mich aber auch, ob dies denn bereits meine eigenen Gedanken sind. Vielleicht schlafe ich noch immer (wenn es denn so war/ist, wie ich (ich?) denke). Vielleicht träume ich noch (wenn dies denn wirklich (wirklich?) ein Traum war/ist). Ich weiß es nicht.

Was ich aber weiß: Dass wir hungrig und durstig sind und dann essen und trinken, dass wir uns die Münder mit den Handrücken abwischen und uns die satten Bäuche reiben. Wir graben unsere Zehen ins Erdreich und unsere Finger in die Körperhöhlen des jeweils anderen. Den Fingern folgen die Nasen und die Zungen. Wir sind voll unverhohlener Neugier. 
Und du siehst mir dabei zu, wie ich mich aus dem Rahmen fallen lasse.

Ach, und zugleich mit deinem Blick immer auch dein Ohr, das mich zum Singen bringt. Leise noch, ein wenig unterdrückt. Um unsere schlafende Nachtigall nicht vor der Zeit zu wecken.

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