Sonntag, 22. Juli 2012

In voller Blüte

Erzählt uns Geschichten, bis wir satt sind!
Wir werden niemals satt sein.


Der Garten stand in voller Blüte. Niemand hatte gejätet, und so wucherte es grün und bunt bis übers Dach. 
Die Frau bog sich wie ein Halm, spreizte Finger und Zehen und streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Es duftete so stark ringsum, dass sie niesen musste, zweimal. Das scheuchte ein paar kleine Tiere auf, sie flohen durchs Bodendickicht, ein Schwarm Vögel erhob sich schimpfend, landete aber sogleich wieder, nur wenige Meter entfernt.
Sie suchte die blaue Bank und fand sie zwischen Brombeergestrüpp und Brennesselbüschen, dort ließ sie sich nieder, leise flatternd wie ein Schmetterling.

Ihr war etwas in Vergessenheit geraten, und sie hatte lange an ihrem Tisch in der Stube gesessen und gegrübelt, was es sein mochte und wohin es verschwunden sein konnte. 
Hin und wieder hob sie den Kopf aus den Händen und warf einen Blick auf den Platz gegenüber. Den Stuhl mit der durchscheinenden Gestalt darauf, den unberührten Teller, das immer gleich volle Glas. Irgendwann schwamm eine Fliege darin, später waren es zwei, dann vier. Die Gestalt auf dem Stuhl verschwand schließlich ganz, und so kehrte der Hunger zurück in ihre Augen. 
Sie blickte sich um, und als sie Kopf und Schulter drehte, löste sich ein Spinnennetz, das zwischen ihrem Ohr und ihrem Schlüsselbein gespannt war. Die Spinne suchte Zuflucht in ihrem grauen Haar, fand dort sogar ein wenig Nahrung. 
Die Frau erhob sich ächzend, ihre Knochen knarzten mit den Fußbodendielen um die Wette. Sie legte eine schlurfende Spur in den Staub.
Ein Blick in die Küche, und sie sah, wer dort das Regiment übernommen hatte: Käfer und Ameisen putzten die Reste aus schmutzigen Töpfen und Tellern, eine kleine Kolonie tüchtiger Helfer. Sie überließ ihnen das Feld.
An der Tür zögerte sie kurz, die Hand schon an der Klinke. Sie wollte einen Schritt tun, der sie herausführte aus dem Schemenhaften. Sie würde nicht wieder zurückkehren, und das bedeutete Abschied. Aber wovon? Und von wem? Sie wusste es nicht.
Doch kaum hatte sie die Tür einen Spalt breit geöffnet, trug ein Lufthauch die Erinnerung an Sommerabende auf einer blauen Bank herein, an eine warme Schulter, an Stoppelhaar, das ihre Wange kitzelte, an perlende Flüssigkeit in einem Glas und an ein ebenso perlendes Lachen. Ihr eigenes?
Aus weiter Ferne hörte sie sich einen Satz sagen, mit noch junger Stimme: 'Hier will ich für immer mit dir sitzen.' Sie sah den vertrauten Blick, in dem soviel Liebe gelegen hatte und noch soviel Zeit.
Sie stieß die Tür weiter auf. Der Garten stand in voller Blüte. Niemand hatte gejätet, und so wucherte es grün und bunt bis übers Dach.

4 Kommentare:

  1. Ein sehr berührender Text! Es gibt Post aus der Birke.

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  2. ...romantisch geprägter Text, warm, naturnah, menschenliebend, alle Achtung!

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    1. Vielen Dank! (Vor allem 'warm, naturnah, menschenliebend' freut mich. Romantisch? Hm, vielleicht ...)

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