Mittwoch, 28. Dezember 2011

Innerung

Freund bleib in deiner Haut
du wirst nicht erfahren wie
und was ich gelebt habe und
lebe wenn wir nicht beieinander
waren und sind nicht immer
wirst du es erfahren und nicht
alles glaub mir: du wirst es 
lassen müssen dein Bohren in 
meinen Gründen und wirst es 
ganz bei mir lassen müssen 
dieses Erfahrene Erlebte das 
mich stark macht weil es meins 
ist ausschließlich meins wisse:
ich äußere mich nicht nur 
ich innere mich auch 

Montag, 26. Dezember 2011

Haben oder Sein

- Ich will das nicht.
- Haben oder sein?

Sonntag, 25. Dezember 2011

Langsamzeit

Aus deinem eiligen Atem 
nimmt sich die Zeit heraus
schlägt einen anderen Weg ein 
den langsamen 
du wirst sie einholen 
wenn du einmal wieder
bei Sinnen bist
dein Zurücklehnen 
wird sie mit einem Anhalten 
der Uhren erwidern 
für einen unbegrenzten 
Augenblick Raum

Freitag, 16. Dezember 2011

Melusine Barby: Anetanoo, Belweta, Chrisonomi!

oder: Wer keine Worte hat, der macht sich welche!

(Vielen Dank, beste Melusine, für diesen Heidenspaß mitten im Advent!)

Donnerstag, 15. Dezember 2011

Das noch nicht fertig ist

In der Rundung zweier Klammern
birgt sie ein Stückchen (was, verrät sie nicht)
und setzt ans Ende jedes Satzes
keinen Punkt, ein Komma (!),
(sie weiß etwas, das noch nicht fertig ist
und das sie deshalb liebt 
und das sie lose halten will wie einen Vogel
kurz vorm Flug)
Was alle wissen: dass sie atmet,
kaum mehr ist's, das sie selber weiß
und wissen will (?) (und manchmal flunkert sie)
und dass sie übt und lernt
(und stolz drauf ist)
und dass sie Angst hat (dass sie Angst hat)
und dass sie liebt (

Montag, 12. Dezember 2011

Was ich meine (Loses Blatt #35)

Ich meine, was ich sage. Und was ich nicht sage, meine ich auch.

Freitag, 9. Dezember 2011

Was im Winter würde

Einmal würde einer sein Versprechen halten. Er würde sich Winter nennen und eine Bank mitbringen. Auf diese Bank würde sie sich setzen, still sein und warten. Schnee würde fallen und sich auf ihre Schultern legen wie ein Arm, und sie würde weich werden, zum ersten Mal weich werden unter der Berührung eines Arms und es zum ersten Mal aushalten, weil er ihr nicht die Haut verbrennen würde wie dieser andere Arm, und sie würde sich nicht beugen, zum ersten Mal nicht beugen unter dem Gewicht eines Arms, sondern sich hineinschmiegen, weil er sie nicht erdrücken würde wie dieser andere Arm. Sie würde die Augen schließen und bleiben. Bleiben würde sie unter diesem Arm, der sich um ihre Schultern legen würde wie frisch gefallener Schnee. Sie würde seine Wärme spüren und seine Sanftheit, und sie würde auf dieser Bank sitzen bleiben und still sein im Arm des einen, der sich Winter nennen und sein Versprechen halten würde.

Aber Eva gefiele es so besser: 

Einmal hielte einer sein Versprechen. Sein Name wäre Winter, und er brächte eine Bank. Auf diese Bank setzte sie sich, hielte still und wartete. Schnee fiele und legte sich auf ihre Schultern wie ein Arm, und sie würde weich, zum ersten Mal weich unter der Berührung eines Arms und hielte es zum ersten Mal aus, weil er ihr nicht die Haut verbrennte wie dieser andere Arm, und sie beugte sich nicht, zum ersten Mal beugte sie sich nicht unter dem Gewicht eines Arms, sondern schmiegte sich hinein, weil er sie nicht erdrückte wie dieser andere Arm. Sie schlösse die Augen und bliebe. Bliebe unter diesem Arm, der sich um ihre Schultern legte wie frisch gefallener Schnee. Sie spürte seine Wärme und seine Sanftheit, und sie bliebe auf dieser Bank sitzen und hielte still im Arm des einen, dessen Name Winter wäre und der sein Versprechen hielte.

*grübel*

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Sebastian van Roehlek: der himmel voller schweigen

"momentan passiert viel. es gäbe genug stoff zum schweigen.

dann überlegt man, ob schweigen ein gut ist oder ein übel.

schweigen ist nicht das gegenteil von sprechen. und reden nicht die antwort darauf: weder aufs eine noch aufs andere. das gelungene schweigen kennt keine wörter. braucht sie nicht. wörter entziehen dich nur aus deiner beziehung zur welt. sprache macht dich gebrechlich und lässt dich glauben, du seist auf sie angewiesen und du bist es auch. wie der hund auf dich angewiesen ist, weil ihm das wolfsein nichts mehr sagt.

und eigentlich bist du nur sprache. bist jedes komma im hals, im kopf. dein leib ist kein ausrufezeichen. er ist dein doppelpunkt. mit ihm hältst du wort. dein ewiger konkurrent. mit ihm buhlst du zwischen verlangen und du. er sehnt sich danach von anderen gelesen zu werden. ein objekt wird ausgewertet. du aber willst nur subjekt sein. unterworfener. du kannst dich nicht hingeben. die sprache verbietet es dir.

und es bleibt die sprache, die dir einfällt, dich zu rechtfertigen. für dein du zu sein. das ist du und du ist ein virus. sag ich. ‘ich’ ist ein virus. aufgeladen mit nichts als sprache. mit nichts als rechtfertigung. ‘ich’ darf nicht ‘du’ sein. muss verschieden sein. wir teilen uns

die dieselben begriffe, sie sollen uns voneinander fernhalten. darf ich dich lesen?

darf ich mich schreiben?

schreiben ist mein ewiger kampf gegen die eigene wahrnehmung.

kein schweigen fällt mir ein. nur das wort. nur das wort ‘schweigen’. es zwingt mich, das schweigen als gegenpart zu verstehen. da komm ich nicht raus. da bleib ich wohnhaft.

da löst sich das wort nicht von ab."


Sebastian van Roehlek, 7.Dezember 2011
(Herzlichen Dank für's Ausleihen!)

Montag, 5. Dezember 2011

Staunen

Zum Schutz vor Überraschungen geben wir allem einen Namen, stopfen die Dinge in Wörter, versehen sie mit handlichen Griffen.
'Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose' sagen wir, aber versteht jeder diesen Satz gleich, und würde eine Rose dem zustimmen? Müssten wir sie nicht eigentlich, wenn wir es wirklich so meinten, aus dieser Buchstabenkombination herausschälen? 
Ein Buch ist ein Garten, in gewisser Weise, eine kultivierte Anregung der Fantasie. Wie sähe das Äquivalent zu Wildnis aus? Es müsste ja ohne Beschneidung auskommen.
Ist das unverfälschte Echo auf eine sinnliche Wahrnehmung nicht vielmehr sprachloses Staunen, sich ergreifen lassen, ohne beherrschen zu wollen? Aber wie kann ich dieses Staunen teilen, ohne es zu verkleinern? Und wie finden wir uns, wenn nicht in Sprache? Es müsste eine Sprache sein, die wuchern darf und über die Ufer treten, die abstrakt und ungebändigt sich ständig weiter und damit genauer macht, die sich ergreifen lässt von der Welt, statt diese in den Griff kriegen zu wollen.
Nichts gegen wissenschaftliche Abhandlungen und sowieso überhaupt gar nichts gegen Neugier und Wissensdurst. Ich wünschte mir nur, dass sie selbstverständlicher Hand in Hand gingen mit Ehrfurcht vor den Dingen und dem Einlassen auf eine Art Zwiesprache mit der Welt um uns herum, wie sie in Bildern, gemalten wie geschriebenen wie musizierten wie gespielten, ihren Ausdruck finden kann.

"Hier, riech mal! Hier, fühl mal! Weißt du, was das ist?"
"Ich finde keine Worte."
"Es ist eine Rose!"
"Oh, und ich dachte, es sei ein Wunder."

Mittwoch, 30. November 2011

Wunschzettel

- ein freundlicher Spiegel
- eine Taschenwolke
- eine Rose, die meinen Namen trägt
- ein günstiger Wind
- ein Boot
- ein eigener Ort
- Zeit, meine Lieblingsbücher ein zweites, drittes, viertes Mal zu lesen
- die Sprache eines Tieres verstehen
- Freundschaft mit mir selbst
- jemand, der es liebt, mit mir Scrabble zu spielen
- ein Gedicht nur für mich
-
-


Was steht auf Deinem Wunschzettel?

Samstag, 26. November 2011

Vertraut

Wie vertraut sie sich sind. Er singt im Duett mit dem Küchenradio. Sie zieht den Bauch nicht mehr ein. Vorm Fenster halten Vögel inne, mitten im Flug. Blätter winken, bevor sie sich niederlassen. Wolken formieren sich zu Ratefiguren. Die Sonne hält sich zurück. Seht, wie sehr sie wohnen!
Aufgerissener Asphalt und Nagetiere, eingetrocknetes Blut, Erde unter den Fingernägeln, Dornen im Haar und Verwüstung im Blick; Überreste eines Sommers, den sie gerne übersprungen hätten.
Sie öffnet das Fenster, scheucht mit den Krähen die Erinnerung fort. Er legt das Messer zur Seite und nimmt ihre Hand. Gemeinsam wissen sie um etwas Dunkles. Sie schließen die Augen und legen die Münder aufeinander. Aus ihren Lungen steigt Licht.

Freitag, 25. November 2011

Was Nam June Paik sagt

„There is no rewind button for life.“

und:

„When too perfect, lieber Gott böse.“

Samstag, 19. November 2011

Übermut

Manchmal 
wenn die Kettenhunde schlafen 
folgt sie dem Pflasterweg zum Tor hinaus 
und tritt - voll Übermut -
auf jede Fuge

Donnerstag, 17. November 2011

Warum ich lese

Ich ahne ungefähr, warum ich schreibe, aber ich weiß genau, warum ich lese.
Wegen Texten wie beispielsweise "Fern Hill" von Dylan Thomas, den ich mir schon unzählige Male laut vorgelesen habe - es muss laut sein, denn der Klang spielt eine wesentliche Rolle, und aus demselben Grund muss es in der Originalsprache sein - und den ich wegen seiner Bilder liebe, die verschwenderisch in die Zeilen gehängt sind wie in eine weitläufige Galerie.
Mich berührt, nein mich packt die Schönheit der verwendeten Wörter und Sätze, ich lande in Grün und Gold, in Sonne und Wind, reite, schlafe, fliege.
Das Lesen dieses und anderer Gedichte von Dylan Thomas (und anderen, ähnlichen) macht mich auf eine Weise furchtlos, die sich schwer erklären lässt. Ich vermute, es hat damit zu tun, dass seine Sprache eine Verbindung schlägt zwischen innerem Erleben und äußerer Welt, damit eine Trennung aufhebt und stattdessen Zugehörigkeit und Aufgehobenheit schafft.
Im Übrigen ist "Fern Hill" einer der Texte, die mich so komplett zufriedenstellen, dass ich nach dem Lesen noch nicht einmal denke 'So möchte ich auch schreiben können'. Das will etwas heißen.

Montag, 14. November 2011

Ich fürchte mich auch

Weißt du, es geht doch immer weiter. Und es geschieht nicht nur, was du dir ausdenkst, es geschieht auch, was will. Nimm das als Entlastung, lehn dich zurück und betrachte. Siehst du die leise Bewegung? Es wird und wird. Selbst im Zerfall steckt noch Leben. Nur das Konservierte ist tot. Halt es fest, und es stirbt. Lass es los, und es wandelt sich. 
Gehen wir ein Stück zusammen? Wir können Bäumen begegnen und Steinen und Vögeln und Abendrot. Wir können uns an der Hand nehmen, wenn es brenzlig wird oder kalt. Ich weiß, überall lauert Abschied. Ich weiß, du fürchtest dich. Keine Sorge, ich fürchte mich auch.

Mittwoch, 9. November 2011

In meinem Kopf (Loses Blatt #34)

In meinem Kopf steht eine blaue Bank, auf der sitzt mit staubigen Füßen die Welt.

Donnerstag, 3. November 2011

Keine Lust auf Text

Keine Lust auf Text 
eher auf Haut
aber die darf zur Not 
aus Worten bestehen

Montag, 31. Oktober 2011

Nah am November

Nah am November
halten wir Ausschau nach
früheren Farben
spähen ins Licht 
dort kreuzen Raben vor
milchweißem Himmel 
hier träufelt Wehmut uns
Prismen ins Haar
spannen wir Bögen aus 
Ruß und Papier
schöpfen wir Glut in den
fröstelnden Raum
unter der herbstlichen Haut

Sonntag, 30. Oktober 2011

Eine Stelle in mir (Loses Blatt #33)

Da ist eine Stelle in mir, die hüllt sich in ein stolzes wortkarges Glück. Ich glaube, dies ist die Stelle, die mir am allermeisten gehört.

Freitag, 28. Oktober 2011

Wir nehmen Fahrt auf

Luft!
Zuerst hatte sie sämtliche Zimmertüren ausgehängt und in die Garage verbannt. Schließlich auch die Haustür, was einfacher war, als sie vermutet hatte. Dennoch brauchte sie anschließend eine Verschnaufpause. Sie ließ sich auf der Vortreppe nieder, mitten in die Blicke der Nachbarn hinein, und lächelte. Niemand würde sie ansprechen, das hatten sie auch damals nicht getan, als sie ihre Fenster schwarz angemalt hatte. Und auch nicht im Jahr darauf, als sie ihre Bücherregale in den Vorgarten getragen hatte. Trotz des Schildes mit der Aufforderung "Bitte bedienen Sie sich!" waren nur die Kinder gekommen, hatten ein paar mal verstohlen zum Haus gespäht, um dann hastig ein oder zwei Bücher aus einem der Regale zu ziehen, die sie später ausnahmslos wiederbrachten, sicher auf Geheiß der Eltern.
Während sie mit den Fingern im Gras spielte, das in kleinen Büscheln zwischen den Stufen hervorlugte, kam ihr die Idee mit den Kleidern. Sie sprang auf, lief ins Schlafzimmer und riss die Türen des Kleiderschranks auf: Geschichte auf Bügeln, farblich sortiert, ein Regenbogen abgetragener Jahre. Eins nach dem anderen nahm sie die Stücke heraus, mit einer zärtlichen und einer harten Hand, und drapierte sie an den Schnüren, die kreuz und quer an der Decke entlang gespannt waren. Die unzähligen Notizzettel, die dort bis zum Jahr der geschwärzten Fenster gehangen hatten, stammten aus einer Zeit der letzten Hoffnung, des zusammengenommenen Mutes. Längst waren sie zu Asche geworden und in einer Urne im Park vergraben, an einer Stelle, die sie nicht mehr aufsuchte.
Die Kleider flatterten und bauschten sich im Luftzug, der durch die Türöffnungen fuhr. Die Segel sind gesetzt, dachte sie und lächelte wieder, diesmal in den Wind hinein. Sie hörte die Vögel im Garten und stellte sich vor, es seien Möwen. Gischt spritzte ihr ins Gesicht, mit der Zunge fing sie einen Tropfen aus dem Mundwinkel und schmeckte das Salz. Wir nehmen Fahrt auf, sagte sie leise, wir nehmen Fahrt auf.

Mittwoch, 26. Oktober 2011

Mantel und Schlüssel

Wenn man über viele Jahre hinweg nackt war bis auf die Knochen, den Wohlmeinenden zur Schau gestellt, den Wissenden zur Begutachtung überreicht, wenn man durchleuchtet war und dies schließlich sein wollte, da es so einfacher war, wenn man gefroren hatte unter kühlen Augen und keine unvermessene Stelle mehr am Leib hatte, wenn jede Erhebung, jede Vertiefung von harter Hand erforscht und geebnet war, wenn man so von innen nach außen gestülpt war zu seinem eigenen Besten, dessen Bekanntschaft zu machen aber nicht erlaubt war, dann wünscht man sich nichts mehr als einen Mantel und einen Schlüssel zu einem Schloss an einer Tür zu einem Raum in einem Selbst, das nicht entäußert ist, das sich der regelrechten Nabelschau verweigert, das Anwesenheit und Inmittenheit sichselbstentsprechend definiert und ausprobiert, ein Selbst, das sich bedeckt hält und mit Lust verhüllt, an seiner Choreographie der Entblößung bis zum Ende zitternd schreibt und das sich nackt vorläufig nur der Nacht, der Liebe und dem Tode zeigt. 

Dienstag, 25. Oktober 2011

Asyl

Gepackt und gebündelt
warst du
in dich gestülpt
und geschlossen
wurde hohe Zeit
für Atem
und Losigkeiten
aller Art
streutest dich aus
lagst im Licht
unter glühenden Augen
branntest vor Scham
wurdest Zorn
wurdest Drang
wurdest Wunsch
batest die Nächte der Welt
um Asyl

Samstag, 22. Oktober 2011

Unumzäunt

Sie weiß etwas für sich allein
und schläft und wacht darüber
glaubt sich auch das
was sie noch nicht versteht
fasst sich in Mut
und lässt ihr Herz gebären
und hüten eine Liebe
unumzäunt

Freitag, 21. Oktober 2011

Wollen

Echt sein wollen
und wahr
auf ein Selbst stoßen wollen
im Innern
und im Äußern
sein wollen
wissen wollen
und staunen 
träumen wollen
und planen
und tun
sorgen wollen
spielen
und lernen
und lassen
und bleiben
was da will in uns finden wollen
und was uns treibt
suchen wollen
und gehen
und ankommen
wiederholen wollen
überspringen wollen
weiter wollen
was ist und was wird wollen
und am Ende was war
wollen

Donnerstag, 13. Oktober 2011

In Buchstabenkleidern (Loses Blatt #32)

Was da alles aufs Papier will und dann so schüchtern in gebügelten Buchstabenkleidern herumsteht und nicht mehr aus sich raus kann.

Freitag, 7. Oktober 2011

Aha, Tranströmer

Zugegeben, ich hatte bisher nichs von ihm, dem inzwischen 80jährigen Schweden Tomas Tranströmer gehört und gelesen. Was mir aber nicht zum ersten Mal passiert mit einem Literaturnobelpreisträger (und das, obwohl ich im Literaturgeschäft tätig bin. Tja ...).
Aber im Vergleich zu einigen früheren Entscheidungen des Komitees, die für mich schwer nachvollziehbar waren - ganz abgesehen von der wiederkehrenden Enttäuschung, dass Bob Dylan immer und immer noch nicht für die unglaubliche Virtuosität seines Textschaffens ausgezeichnet wurde - im Vergleich dazu also, finde ich die diesjährige Wahl, getroffen nach ästhetischen Gesichtspunkten, schlichtweg schön und im Sinne einer Balance auch wichtig.

Mir gefällt, was Tranströmer übers Dichten sagt:

"Ich sehe ein Gedicht nicht als eine Erklärung, sondern als eine neue Perzeptions- und Kommunikationsweise. Wie in einem Bahnknotenpunkt, wo sich die Züge aus allen Richtungen treffen, gibt ein Gedicht plötzlich einen neuen Kommunikationsknotenpunkt, von dem aus die Wirklichkeit zwar nicht erklärt, aber in einer neuen Beobachtung gezeigt wird."

Und mir gefällt, was er dichtet:

Der Adlerfels

Hinterm Glas des Terrariums
die Reptile
seltsam reglos.

Eine Frau hängt Wäsche auf
im Schweigen.
Der Tod ist windstill.

In der Tiefe des Bodens
gleitet meine Seele
schweigend wie ein Komet.

Über das Wenige, das meine Tageszeitung zu Tranströmer weiß, hinaus finden sich im Netz mehrere empfehlenswerte Artikel, u.a. dieser:

Und nun werde ich mir, um nicht nur das über den Preisträger, sondern vor allem das von ihm Geschriebene zu lesen, folgenden Band besorgen:
Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte, übersetzt von Hanns Grössel, Carl Hanser Verlag 1997, ISBN: 978-3446189614

Donnerstag, 6. Oktober 2011

Axel Sanjosé: Die Zeit, heißt es

"Die Zeit, heißt es,
aber es ist nur
der Wechsel des Lichts.

Einmal sahen wir Möwen:
Wir stellten uns das Meer vor.
Einmal sahen wir keine Möwen:
Wir stellten uns das Meer vor.

Gelassenheit
ist das Gegenteil
von Zeit.

Behandle das wie frischen Rosmarin."


aus: Für die mit der Sehnsucht nach dem Meer, Gedichte, versammelt von Joachim Sartorius, marebuchverlag 2008

Sonntag, 2. Oktober 2011

Höher, weiter

Wenn man über viele Jahre hinweg auf alles eine Antwort bekommen hat, häufig ungefragt, wenn der Geist unterfordert war und der Verstand vergewaltigt wurde, dann beginnt man, die Fragen zu lieben und etwas anderes zu suchen als Antworten, man stürzt sich auf Kompliziertes und Dinge, die man nicht auf Anhieb versteht, man verbittet sich Eingängiges und Erklärungen für weniger Eingängiges, man schaut immer eine Stufe höher, einen Schritt weiter, als der eigene, in Grenzen gehaltene Horizont reicht, man macht schmerzhafte Dehnungsübungen, um sich der Herausforderung des Fremden zu nähern, badet in dunklen Gewässern und springt hoch in die Luft, ohne zu wissen, wo man landen wird, man trainiert die verkümmerte Muskulatur seines Selbst und holt sich Blessuren, die schmerzen, die immer wieder die Begrenzung zeigen, aber auch die Kraft und die Möglichkeit eines tatsächlich eigenen Willens, man kehrt zurück in frühe Instinkte, die übersprungen wurden, verdeckt, aber nicht gelöscht, lässt sie Luft holen und sich ausbreiten, man nimmt sich seinen Hunger und seinen Durst und durchquert damit jede offen daliegende Welt, man staunt und wundert sich und liebt über alles die Vielfalt und ihre selbstverständliche Inanspruchnahme des Rechts auf Dasein und Ausdruck. Und man lässt sich nicht mehr bremsen.

Samstag, 1. Oktober 2011

Antonia S. Byatt: Das Buch der Kinder

"ANFÄNGE

[...]
Die Kinder mischten sich unter die Erwachsenen und sprachen mit ihnen. Die Kinder dieser Familien gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren anders als die Kinder vor und nach dieser Epoche. Sie waren weder Puppen noch kleine Erwachsene. Sie wurden nicht in Kinderstuben versteckt, sondern waren bei den Familienmahlzeiten anwesend, und ihre sich herausbildende Persönlichkeit wurde ernst genommen und ernsthaft erörtert, beim Abendessen und während langer Spaziergänge. Zugleich lebten die Kinder in dieser Welt ihr eigenes, weitgehend unabhängiges Leben als Kinder. Sie streiften durch Wälder und Wiesen, bauten sich Verstecke, erkletterten Bäume, jagten, fischten, ritten Ponys und fuhren Fahrrad, und alles ohne andere Gesellschaft als die anderer Kinder.
[...]
Die meisten Eltern dieser Glückskinder hatten selbst keine so glückliche Kindheit gehabt. Wenn sie sich selbst überlassen worden waren, dann weil sie vernachlässigt wurden oder für ihr späteres Leben abgehärtet werden sollten, nicht etwa weil Freiheit gut für sie war.
Die Freiheit sowohl der Eltern als auch der Kinder verdankte sich in vielerlei Hinsicht der gewissenhaften Arbeit von Dienstboten und selbstlosen Tanten, die in steiferen Zeiten altjüngferliche Schwestern gewesen wären. 
Die Wellwoods machten den Eindruck, eine dieser umgänglichen und einnehmend komplizierten Familien zu sein."

aus: Antonia S. Byatt, Das Buch der Kinder, Roman Fischer 2011, aus dem Englischen übersetzt von der großartigen Melanie Walz

Hier eine Rezension, die mir - so skeptisch ich im Allgemeinen Rezensionen gegenüberstehe - sehr zusagt, denn sie stimmt mit meiner Lesart des Buches überein, ist also garantiert subjektiv ausgewählt, genau wie es sein soll.
Wiebke Hüster: Wie die gerechtere, bessere Welt verging

Donnerstag, 29. September 2011

Was in eine Hand passt, unvollständige Sammlung

ein Stück Brot, ein Glas Wein, ein Strauß Blumen, ein junger Vogel, ein Löffel, ein Buch, ein Stift, ein Messer, ein Stock, ein Brief, ein Telefon, eine Wange, ein Türgriff, eine Taschenlampe, eine Maus, ein Schmetterling, ein Haarbüschel, ein Kamm, eine Schere, eine Gießkanne, eine Fernbedienung, ein Hammer, eine Lupe, ein Schneeball, eine Muschel, ein Stein
...


eine andere Hand

Dienstag, 27. September 2011

Von dem, das vor der Tür wartet

Ich gehe doch nicht vor die Tür, um meinen Gang beurteilen zu lassen, die Länge meiner Schritte beispielsweise, und ob ich die Füße ein- oder auswärts setze, ob ich die Arme schwinge und den Kopf in den Nacken werfe, ob ich mein Glück auf dem Boden suche oder in der Luft, ob ich pfeife oder schmunzle oder eine Träne verdrücke, ob ich der Nachbarskatze über den Kopf streiche, einen Stein umdrehe, in eine Pfütze spucke, oder ob ich endlich meine Flügel ausbreite, um mich abzuheben von dem, das vor der Tür wartet, um meinen Gang zu beurteilen, die Länge meiner Schritte beispielsweise, und ob ich die Füße ein- oder auswärts setze, ob ich die Arme schwinge und den Kopf in den Nacken werfe, ob ich mein Glück auf dem Boden suche oder in der Luft, ob ich pfeife oder schmunzle oder eine Träne verdrücke, ob ich der Nachbarskatze über den Kopf streiche, einen Stein aufhebe, in eine Pfütze springe, oder ob ich endlich meine Flügel ausbreite, um mich abzuheben von dem, das vor der Tür wartet, um meinen Gang zu beurteilen, die Länge meiner Schritte beispielsweise, und ob ich die Füße ein- oder auswärts setze, ob ich die Arme schwinge und den Kopf in den Nacken werfe, ob ich mein Glück auf dem Boden suche oder in der Luft, ob ich pfeife oder schmunzle oder eine Träne verdrücke, ob ich der Nachbarskatze über den Kopf streiche, einen Stein werfe, in eine Pfütze tauche, mit offenen Augen, oder ob ich endlich meine Flügel ausbreite, um mich abzuheben von dem, das vor der Tür wartet

Sonntag, 25. September 2011

Vergnügungen - Kontrastprogramm

Mitbringsel von der 12. Emmendinger Lesenacht, bei der es Gereimtes und Ungereimtes zu hören gab, darunter bestimmt mehr Gutes, Schönes, Wahres als bei der parallel stattfindenden Massenveranstaltung im 15 Kilometer entfernten Freiburg.


Vergnügungen

Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein.

Bertolt Brecht


Dichter sii

Dichter sii heisst villicht
Gànz eifàch bis àn’s And geh
Vo dr eigena Sproch
Un vom Courage f’r sa z’reda

Un schwiga erscht
Wenn uns d’Sproch nimma brücht

Adrien Finck

Donnerstag, 22. September 2011

Bin grünende Hügel

Bin grünende Hügel
sei Asche sei Glut
bin blauendes Meer
sei Ebbe und Flut
lass uns Lichtbrecher sein
durchs Spiegelnde ziehn
in den Händen des Abends 
zu Rosen erblühn
lass ins Dunkle uns springen
sei nächtlich vertraut
und leck mir am Feuer
den Tag von der Haut


[Dir ist fremd wie ich hinter
geometrischen Schleiern
auf der Suche bin nach der
Ursituation?
Sieh doch:
Drum hab ich das Tier
ins Quadrat gesperrt.]


Entwirr meine Sinne
sei heller als hell
und wirf dich in meinen blinden Lauf
sei Zahn sei Kralle
sei nächtliches Fell
reiß all meine grauen Stellen auf
lass ins Dunkle uns springen
lass uns Lichtbrecher sein
ins Dunkle springen 
Lichtbrecher sein
ins Dunkle
ins Licht
... 
bin blauendes Meer
sei Ebbe und Flut
bin grünende Hügel
sei Asche sei Glut

Montag, 19. September 2011

Mehr als alles auf der Welt

Sie mehr zu lieben als alles auf der Welt
und doch die Lippen manchmal nicht 
schließen zu können vor dem Ausbruch 
überschluckter Worte die ihre Augen erst 
weit werden lassen und dann eng die es 
um ihre Münder zucken lassen bevor sie 
ihre Rücken aufstellen zu einem Stück 
Abschied der dein Herz bluten lässt
nachdem für einen winzigen Augenblick 
Ausatmen war und dann dieses weitere 
Stück diesen weiteren Meter Rückzug 
hinzunehmen als von Generationen 
bereiteten Weg aber auf diesen sich 
addierenden Metern Tabubruch zu 
pflanzen einen musterdurchbrechenden 
Keim und sie mutig immer weiter zu
lieben mehr als alles auf der Welt

Samstag, 17. September 2011

Laienhafte Anmerkungen zur bevorstehenden Sonnenfinsternis

!!! Einige Optiker verfügen noch über Restbestände an Schutzbrillen, die anlässlich der letzten großen Sonnenfinsternis hergestellt wurden. Gönnen wir ihnen den Verdienst und greifen zu, solange der Vorrat reicht. Denn jeder, der nicht wegsehen will, wäre - ungeschützt - vom Einbüßen seiner Klarsicht bedroht. !!!


Derweil laufen die Vorbereitungen in den drei betroffenen Städten auf Hochtouren. Über Sicherheitsvorkehrungen, Kosten und Brimbamborium wird an anderen Stellen bereits ausführlich berichtet. Hier soll es - s.o. - nur einige wenige ergänzende und - soviel zur Unterstreichung unserer Integrität - laienhafte Anmerkungen geben:
Das Ereignis ist zwar kein gott-, aber ein (menschen)naturgegebenes und wird als solches unabwendbar eintreffen.
Die Schar der Neugierigen und der Anbeter wird groß sein, wir sollten uns dazugesellen und mitbeobachten.
Und wir sollten unsere Aufmerksamkeit nicht nur der Erscheinung selbst (ihrem blendenen und gleichzeitig verdunkelnden Auftritt) schenken, sondern auch unsere Umgebung wahrnehmen: 
Das unvermeidliche Verstummen ganzer Herden, 
das Anlegen der Flügel sonst freier Wesen, 
das Verbergen wahrer Gesichter hinter gefalteten Blütenblättern. 
Und wir könnten hoffen, dass es sich dabei - zumindest bei Einigen - nicht um Zeichen der Ehrfurcht handelt, sondern um Maßnahmen zum Schutz der eigenen empfindlichen Seelen.


!!! Aus sich gut unterrichtenden Kreisen verlautet, dass es weder ein Verstummungsgebot, noch ein Flugverbot für Blätter, seien sie auch noch so herbstlich gefärbt, geben wird, desweiteren keine Kleiderordnung, die beispielsweise das Tragen einer guten Miene vorschreiben könnte. !!!

Donnerstag, 15. September 2011

Mein Platz

Um dazugehören zu können, müsse ich mich erst vermessen lassen, dann träfen die bereits Dazugehörenden ihre Entscheidung.
Aha. Aber hatte ich danach gefragt? Ich wollte dabei sein. War das dasselbe?
Ich trat einen Schritt zurück, dann noch einen. Aus der Ferne betrachtet waren sie klein. Und der Raum um mich herum war weit. Mein Platz.
Ich stellte ein Schild auf: Besucher erwünscht. Wenn ich morgens aufwachte, sah ich ihre Spuren. Sie kamen nachts, und ich störte sie nicht.
Wir hielten Frieden, und mit der Zeit kam es mir vor, als hütete ich sie.
Ab und zu erlaubte ich mir den Gedanken, dass ihre Neugier sie eines Tages retten werde.
Dann würde ich sie zu einem Picknick einladen. Wir würden im Gras sitzen, umweht, umduftet, umsummt. Wir würden essen und trinken und einander unsere echten Leben zeigen. Und wir würden lachen, da war ich ganz sicher, wir würden zusammen lachen.

Süchtig ... (Loses Blatt #31)

... nach Austern und ähnlich schwer Erschließbarem.

Dienstag, 6. September 2011

Doris Lessing: Es gibt nur eine Art, Bücher zu lesen

Vorab eine Begründung für die Auswahl des Textes:
Fast täglich habe ich es in der Buchhandlung mit rezensentengläubigen Kunden zu tun, solchen, die sich von anderen sagen lassen, was zu lesen lohnt oder gar ein Muss ist. Diese Kunden kennen die Bestsellerlisten und/oder die Literaturseiten der klugen Zeitungen, kennen sie besser als ihren eigenen Geschmack und trauen gestelzt formulierten Urteilen mehr als dem eigenen verschütteten Instinkt für das, was ihnen gefallen und guttun könnte. Sie haben viel Zeit mit dem Lesen von Kritiken verbracht, kommen mit ausgeschnittenen oder ausgedruckten Artikeln und "sparen" sich so das Stöbern, das Blättern, das Hineinlesen, das Verführenlassen. 
Manchmal, viel zu selten, gelingt es mir, solche Kunden auf Abwege zu führen, sie auf weniger Populäres aufmerksam zu machen, auf ein gelungenes Cover, einen originellen Titel hinzuweisen, ihnen ein Buch aufzuschlagen und mit den ersten Sätzen ein Netz auszuwerfen, in dem sie sich verfangen und den Reiz des Findens und Gefundenwerdens erleben. Denn nichts anderes geschieht, wenn wir auf ein Buch stoßen, das unvermittelt zu uns spricht und eine Resonanz an verschiedenen Stellen in uns auslöst. 
Natürlich lese auch ich Rezensionen und schaue Literatursendungen (manche sogar mit Vergnügen und Gewinn), nicht nur "von Berufs wegen", sondern aus echtem eigenen Interesse, das manchmal allerdings eher den Rezensenten und ihren Selbstdarstellungskünsten gilt als dem besprochenen Buch. Das entdecke ich nämlich am allerliebsten selbst.


Und nun Doris Lessing:
"[...]
Wie jeder andere Schriftsteller bekomme ich ständig Briefe von jungen Leuten, die in verschiedenen Ländern - aber besonders in den Vereinigten Staaten - Examensarbeiten und Aufsätze über meine Bücher schreiben. Sie alle sagen: Bitte schicken Sie mir ein Verzeichnis der Artikel über Ihr Werk, der Kritiker, die über Sie geschrieben haben, der Autoritäten." Sie fragen auch nach tausend Einzelheiten, die völlig irrelevant sind, die aber als wichtig zu betrachten sie gelehrt wurden und die schließlich ein Dossier ergeben wie das eines Einwanderungsbüros.
Diese Anfragen beantworte ich wie folgt: 'Lieber Student. Du bist verrückt. Warum Monate und Jahre damit zubringen, Tausende von Wörtern über ein einziges Buch oder selbst einen einzigen Schriftsteller zu schreiben, wenn es Hunderte von Büchern gibt, die darauf warten gelesen zu werden. [...] Und wenn du dir mein Werk als Thema ausgesucht hast [...], warum liest du dann nicht, was ich geschrieben habe und wirst dir klar über das, was du denkst, und prüfst es anhand deines eigenen Lebens, deiner eigenen Erfahrung. Kümmere dich nicht um Professor Schwarz und Weiß.'
[...]
Ich sage diesen Studenten, die ein, zwei Jahre damit zugebracht haben, Abschlußarbeiten über ein einziges Buch zu schreiben: 'Es gibt nur eine Art, Bücher zu lesen, nämlich die, in Bibliotheken und Buchhandlungen zu stöbern, Bücher mitzunehmen, die einen interessieren, und nur die zu lesen und sie wegzulegen, wenn sie einen langweilen, oder die Längen zu überspringen - und niemals, niemals etwas zu lesen, weil man glaubt, man müßte, oder weil es zu einer Richtung oder Bewegung gehört. Denk daran, daß das Buch, das dich langweilt, wenn du zwanzig oder dreißig bist, eine Offenbarung sein kann, wenn du vierzig oder fünfzig bist - und umgekehrt. Lies kein Buch, wenn nicht die Zeit dafür gekommen ist. [...] Vor allem solltest du wissen, daß die Tatsache, daß du ein oder zwei Jahre über einem Buch oder einem Autor verbringen mußt, bedeutet, daß du schlecht unterrichtet worden bist - man hätte dich lehren sollen, auf deine eigene Weise von einer Neigung zur nächsten zu lesen, du solltest lernen, deinem eigenen intuitiven Gespür im Hinblick auf das, was du brauchst, zu folgen: das ist es, was du hättest entwickeln sollen, nicht die Art, wie man andere Leute zitiert.'"


(Trotzdem, liebe Doris Lessing, war es mir in diesem Fall ein Bedürfnis und ein Vergnügen, "andere Leute" zu zitieren, nämlich Sie mit Ihrer klugen Kritikergläubigkeitskritik.)


aus dem 1971 verfassten Vorwort Doris Lessings zu ihrem 1962 erschienen Roman "Das goldene Notizbuch", hier Roman Fischer 1978

Mittwoch, 31. August 2011

Eine Handvoll Licht

(für R. und J. und L.)


Eine Handvoll Licht
silbern
darin die ganze Welt
so schwer
so leicht
sie fällt sie fliegt
sie sieht (bestimmt!)
und jede beschaute
jede berührte
jede beweinte Stelle
schimmert
so geliebt
so geliebt

Am Ende

Wir hatten schon besser 
geschwiegen
vertrauter
in jener Zeit
fügten uns Wunder zu
später bluteten wir
suchten Heilung
im Verschließen
verpassten
den Zeitpunkt für ein 
Lass uns Freunde bleiben
das Haus rückte uns
auf den Leib
am Ende
reichte der Sauerstoff
nicht mal mehr für ein 
Abschiedswort

Montag, 29. August 2011

Der Besuch

Dieser Text knüpft an einen früheren an, den man, wenn man möchte, zum besseren Verständnis hier nachlesen kann: Gott


Ein Jahr war vergangen, seit wir ihn das letzte Mal gesehen hatten. Dort auf dieser staubigen Straße. Mit seinen seltsamen, in den Wind gesungenen Fragen. Wir erinnerten uns nur ungern daran. Und hatten doch sein Bild sofort wieder klar vor Augen, als wir seinen Brief lasen.
Er lud uns ein in sein Refugium, schrieb, er habe ein Abteil gemietet, einen eigenen Platz, mit dem er Ordnung in sein Leben gebracht habe.
Unsere Neugier ließ sich nicht leugnen, also sagten wir zu, schärften unsere Messer, fragten uns noch einmal gegenseitig die Antworten ab. Wappneten uns. (Nicht, dass dieser Abtrünnige ein ernstzunehmender Gegner gewesen wäre!)

Als wir eintrafen, tanzte er auf dem Parkplatz zwischen Lieferwagen und abgestellten Kartons. Zu einer lauten, ungehörigen Musik, die wir schon von weitem vernommen hatten. Er schaltete sie ab, sobald er uns erblickte und lächelte uns strahlend an.
Wir verschränkten die Hände hinter dem Rücken, widerstanden seiner unangebrachten Herzlichkeit. Hier war eine förmlichere Begrüßung am Platz. Ein unverzügliches zur Sache Kommen.
Er schien zu verstehen und führte uns ins Gebäude. Durch einen hellen Flur gelangten wir zu seinem Abteil. Er öffnete die Tür und ließ uns eintreten: 16 Quadratmeter blanker Estrich und weißer Putz, die Wände an vier Stellen mit verschiedenfarbigen Vorhängen verhüllt; wir fühlten uns an einen Museumsraum erinnert. 

Unser Gastgeber bat uns vor den ersten, weißen Vorhang und zog diesen zurück. Unser Blick fiel auf ein großformatiges Gemälde, das in seinem realistischen Stil wie eine Fotografie wirkte. Oberhalb des Rahmens war ein Schild angebracht, darauf stand in plakativen Buchstaben das Wort:

BRÜDER

„Schaut es euch in Ruhe an“, forderte er uns auf. „Und fragt, wenn ihr etwas nicht versteht.“ Als wäre es vorstellbar, dass wir Fragen an ihn haben könnten. Als wäre es möglich, dass er auf irgendetwas eine Antwort wüsste.
Am linken Bildrand sah man einen bärtigen Mann in einem Schaukelstuhl sitzen, zwischen dicken, bunten Kissen und mit einem Buch in Händen. „Gutenachtgeschichten“ entzifferten wir den Titel. Rechts im Bild stand ein ganz ähnlich aussehender Mann in einem Boot, das, am Ufer vertäut, in seichtem Wasser lag. Er stützte sich auf eine lange Stange, die im Grund des Wassers stak. Der hintere Teil des Bootes war ebenfalls mit Kissen ausgelegt, aus denen ein Buch hervorschaute. „Von Anfang zu Anfang“ war auf dem Umschlag zu lesen. Zwischen den beiden Männern erstreckte sich ein Weg, der zu Füßen des Mannes im Schaukelstuhl begann, durch die tiefsten Schichten des Bildes führte und im Schilfgürtel auf der rechten Seite endete. Folgte man diesem Weg mit den Augen, entdeckte man Stationen eines ganzen Menschenlebens: eine Wiege, ein Märchenbuch, Bauklötze, eine Puppe, ein Schaukelpferd, Fahrzeuge aller Art vom Dreirad bis zum Automobil, eine Schiefertafel mit Griffel und Schwamm, einen Rechenschieber, einen Globus, eine Sternkarte, allerlei Werkzeug und technisches Gerät, ein Schmetterlingsnetz, einen Wanderstab, eine Angelrute, ein Jagdgewehr, Musikinstrumente von der Blockflöte bis zum Klavier. Ein Haus. Einen Garten. Eine Familie. Ein Krankenbett. Ein Sterbebett. Es wimmelte nur so von Details, blühenden wie blutigen, uns schwindelte ein wenig, und nun fragten wir ihn doch: „Wer sind die Brüder?“ 
„Schlaf und Tod“, war seine Antwort. Wir blieben stumm. Wussten wir doch, dass jedes einzelne Wort, an einen Verblendeten gerichtet, pure Verschwendung war.

Das Bild wurde wieder verhüllt und der zweite, ebenfalls weiße Vorhang zurückgezogen. Zum Vorschein kam ein Gemälde, das in Format und Technik dem ersten glich. Sein Titel lautete:

HOHES GERICHT

Abgebildet war ein Gerichtssaal, in dem mehrere Männer in schwarzen Roben über Tische und Bänke tanzten. Manche hatten ihre Röcke angehoben, so dass ihre haarigen Schenkel zu sehen waren. Sie vollführten waghalsige Sprünge, klatschten in die Hände und lachten mit breiten Mündern. Jeder einzelne von ihnen blickte dem Betrachter direkt ins Gesicht und drückte dabei ein Auge zu. Wir waren empört. Und verzichteten diesmal auf eine Erklärung.

Nachdem auch dieses Bild wieder verhüllt war, ging es weiter zur Wand gegenüber der Tür. Kaum war der dortige, türkisfarbene Vorhang zur Seite gezogen, mussten wir für einen Moment die Augen schließen, so sehr blendete uns die plötzliche Helligkeit. Tageslicht, strahlender Sonnenschein. Wir standen vor einem hohen, breiten Gemälde, das einen überraschend naturgetreuen Blick aus einem Fenster suggerierte. Es trug die Überschrift:

HIMMEL

Wir sahen hinaus auf einen blühenden Garten: Grünes Gras, blaue Hortensien, Kirsch- und Apfelbäume, bunte Blumen und Schmetterlinge, alles bewegt von einem sanften Lüftchen. Hier und da waren Personen zu erkennen, nackt!, einzeln, zu zweit, in Grüppchen. Ihr Anblick trieb uns die Schamröte ins Gesicht.  An der hausfernen Seite wurde der Garten durch Granitfelsen begrenzt. Dort wand sich eine grob in den Stein gehauene Treppe hinunter in eine Bucht. Unser Blick fiel auf ein Meer, das in den gleichen Blau- und Grüntönen schimmerte wie der Vorhang. Vor dem Horizont hoben sich einige kleine Segelboote ab. Dahinter stand die Sonne, groß und rund und leuchtend. Unsere Augen schwammen vor Blendung durch täuschenden Schein, und unsere Herzen drohten weich zu werden von der Verführung durch äußere Schönheit. Wir wandten uns ab. Eine Aussicht, nichts weiter! Der Glaube an einen Himmel auf Erden war uns bekannt und in seiner ganzen Absurdität bewusst.

Fehlte noch das Bild an der Wand rechts der Tür. Unser Gastgeber blickte uns der Reihe nach an und zog dann den nachtschwarzen Vorhang zur Seite. Ein Bild mit weißem Hintergrund wurde freigelegt. Eine Gruppe von Personen war darauf zu sehen, sie schauten dem Betrachter direkt in die Augen. Sie ähnelten sich stark, sowohl was die Gesichtszüge und die Körperhaltung, als auch die Kleidung betraf. Alle trugen staubgraue Anzüge, scharfe Bügelfalten, korrekt gebundene Krawatten, blank polierte Schuhe. Irgendwie imponierten sie uns. Irgendwie waren sie uns unheimlich. Als wir uns vorbeugten, um nach eventuellen unterscheidenden Details zu suchen, beugten sich die Gestalten im Bild ebenfalls vor, uns entgegen. Wir schraken zurück. Einige von uns gerieten ins Taumeln. Desgleichen die Figuren im Bild. Schließlich fassten wir uns, traten nochmals einen Schritt näher heran und erkannten nun, dass wir vor einem Spiegel standen. Er trug den Titel:

DIE ANDEREN

Wir griffen nach unseren Messern, nach unseren geschliffenen Antworten - und ließen sie dann doch stecken. Verzichteten auf jedes weitere Wort, jede weitere Geste.
Wir wurden hinausgeleitet und verließen umgehend und ohne seinen Abschiedsgruß zu erwidern diesen Ort. Als wir noch einmal über die Schulter zurückblickten, sahen wir, wie er zwischen Lieferwagen und Kartons ein Rad schlug. In unserem Rücken hörten wir, wie die Musik wieder eingeschaltet wurde, spürten wir, wie er wieder zu tanzen begann.
Und leider begleiteten uns die Bilder und Klänge auch noch, nachdem wir viele Kilometer zwischen ihn und uns gelegt hatten.

Samstag, 20. August 2011

Tochter

Sie will meine Hand nicht mehr und entzieht sich meinen Blicken, und ich frage mich: Ist sie angekommen? Sucht sie noch? Geht es ihr gut?
Eine Zeitlang genügte es, meinen Kopf zu wenden oder mein Blickfeld zu dehnen, um ihren Weg weiter zu verfolgen. Ich zählte ihre Schritte, die mal kurz, mal lang waren, mal tänzelnd, mal schwer. Am liebsten barfuß oder in Turnschuhen. Und ständig wechselten sie die Richtung.
Was ich deutlich vor mir sehe, ist ihr gerader Rücken, ihre Lust auf Musik und eine eigene Gangart, ihr weites Herz.
Ich will unauffällig Ausschau halten nach ihr, denn sie wird wiederkommen, um zu erzählen und zu hören und für eine weitere feste Umarmung, bevor sie erneut aufbricht in den Teil der Welt, der nur ihr gehört.

Mittwoch, 17. August 2011

Gegessen

Gegessen
was war
und
was hätte sein können
alle Hoffnung
geschluckt
verdaut
was war
aber nicht
was hätte sein können
alle Hoffnung
ein Stein
-
[ein Acker?
ein Samenkorn??]

Sonntag, 14. August 2011

Sichselbst(kritisch)

Sie pirscht sich an
den Tod heran
fürs Leben hat sie
manchmal nur
ein Schulterzucken
müde Scham und
tröpfelnde Lust
mit Wut kehrt sie 
den Jammer vor die Tür
der Schrei muss auf die Bank

wie hält man das bloß aus
fragt sie
pflückt im Vorbeigehn
eine Blume
die nichts weiß
und alles glaubt
ach sagt sie ach
das Klagen war so schön
das Wüten tat so gut
das Lieben ist so schwer

sie gräbt sich selbst
aus ihrer Haut heraus
schlägt ihre Zähne
in die Zeit
klagt ach 
dem Weg dem Grün dem Fels
verwandelt euch
in was ihr wollt
ich werde werde werde
die niemand ist als ich

und Welten stürzen
über ihre Lippen
in den Teich
der nichts trägt
als ihr Bild

Donnerstag, 11. August 2011

Mäuseherz

Spuck's aus, Mäuseherz
spuck den Zorn aus
lass die Hunde los
nimm den Schreck
in ihren Augen
ihre harten Hände
nimm den Schmerz
auf deiner Wange
lach darüber
weil er nichts ist
nichts gegen die Jahre
nimm ihre leeren Münder
und pflanz die Freiheit Babels
in dein Mäuseherz

Montag, 1. August 2011

Es fehlt gerade an nichts

Mir und hier fehlt es gerade an nichts; noch nicht einmal das, was nicht da ist, fehlt, denn stattdessen ist da Vorfreude und eine Art Gewissheit.
Nichts muss ersetzt werden, die Ersetzer ruhen in Neutralität, ich liebe sie kaum.
Und was soll ich sagen, sogar die Sonne scheint, obwohl - weil deutscher Sommer - die Wahrscheinlichkeit so gering (geschätzt) ist.
Ich kann nichts dafür. Und anstatt mich zu entschuldigen (überhaupt: was für eine absurde Idee!), winke ich die Feen durch und bedanke mich ins Blaue hinein, und ins Grüne.


(Manchmal wünschte ich mir statt der Schwarz-auf-Weiß-Konservierungsmethode eine, mit der man Momente in Gläser abfüllen kann, um sie später und viel, viel später noch riechen und schmecken zu können.)

Donnerstag, 21. Juli 2011

Gottfried Benn: Gebote für Dichter

(An diese Gebote hielt er sich eisern. Mir sind sie willkommene Provokation.)


1. Keine Andichtung unbelebter Gegenstände!
    Ausnahme: Eichendorff.

2. Keine Wie-Vergleiche!
    Ausnahme: Rilke.

3. Keine Farben!
    Ausnahme: Blau.

4. Keine Esoterik!
    Ausnahme: auf realistischer Basis.

aus: Gottfried Benn, Probleme der Lyrik, Vortrag 1951