Samstag, 26. Dezember 2009

Im neuen Jahr

Im neuen Jahr
werde ich wieder am See sitzen und meine Gedanken schweifen lassen,
barfuß durchs Gras laufen, die Haare im Wind.
Ich werde laut Musik hören, mein Gesicht in die Sonne halten und tanzen.
Im neuen Jahr werde ich das Meer wiedersehen und auf Wellen reiten,
hinaussegeln, dem Horizont entgegen,
vor Anker gehen in einer kleinen bretonischen Bucht.
Im neuen Jahr werde ich wieder in Cafés sitzen und lesen,
in meinen Notizen blättern,
Menschen beobachten und schreiben.

Im neuen Jahr werde ich mir wieder Nischen suchen
und Parallelleben führen auf Papier.
Ich werde die Augen schließen und auf Reisen gehen.

Im neuen Jahr wird einer kommen und sagen: He, ich glaube wir kennen uns.
Und ich werde nicht lange nachdenken und erwidern:
Klar, ich erinnere mich, komm, lass uns was zusammen trinken.
Im neuen Jahr wird mich einer finden und wieder verlieren,
werden Menschen kommen und gehen,
werde ich gegen den Strom schwimmen und mich treiben lassen.
Im neuen Jahr wird sich einer neben mich setzen und fragen:
Darf ich? Er wird sich eine Zigarette anzünden
und wird auch mich daran ziehen lassen, bevor wir uns küssen.

Im neuen Jahr werde ich mich wieder öffnen
und verwundbar sein bis auf die Knochen.
Ich werde wieder alles an mich ran lassen aus lauter Lust auf Leben.

Im neuen Jahr wird mir einer das Blaue vom Himmel holen,
wird mir Geschichten erzählen und mich mit Worten verführen.
Und ich werde alles glauben, weil ich es will.
Im neuen Jahr wird mich einer entdecken
und erforschen
und mitnehmen in eine andere Welt.
Im neuen Jahr werde ich die Seiten umblättern,
werde staunen und fragen und lernen,
werde auf Schönes und auf Erschreckendes stoßen.

Im neuen Jahr werde ich der Realität ins Auge sehen
und mich von Spekulationen fernhalten.
Ich werde echte Fragen stellen und keine Antworten erwarten.

Im neuen Jahr werde ich mutig sein
und ehrlich
und respektvoll.
Im neuen Jahr werde ich Mauer sein und Schutz
und offene Hand und Großmut und Verzeihen
und Schwachheit und Scheitern und Neuanfang.
Im neuen Jahr werde ich einem zeigen, was Freundschaft ist
und Nacktheit und Scham und Sehen und Verstehen
und Würde.

Im neuen Jahr werde ich ein weiteres Stück meines Hochmuts ablegen,
werde mich in Einsicht und in Nachsicht üben
und mich daran erinnern, dass wir alle zur selben gefährdeten Spezies gehören.

Im neuen Jahr werde ich mich entäußern um eines Menschen willen,
der so wenig wie jeder andere auf der Welt in der Lage ist,
sein Glück auf geradem Wege zu finden.
Im neuen Jahr werde ich einem den Mut wünschen und den Stolz,
in den Spiegel zu sehen und zu sagen: Sieh dich an!
Du bist nichts als Staub und Asche. Und um deinetwillen wurde die Welt erschaffen.
Im neuen Jahr werden wir Hand in Hand über Zäune springen,
unsere Wunden lecken
und für alles die Konsequenzen tragen.

Im neuen Jahr werde ich mir wieder nicht selbst genügen,
werde Menschen brauchen, an denen ich mich reiben kann,
die mich korrigieren und die mich wärmen.

Im neuen Jahr werde ich den Austausch suchen und das einsame Überdenken,
werde mich lustvoll streiten in der Sicherheit gegenseitiger Sympathie,
werde mir treu bleiben, dazulernen und meine Meinung ändern.
Im neuen Jahr wird alles so sein wie in den vergangenen Jahren:
Ich werde gehen, stehen bleiben, schauen, weitergehen,
auf schmalen, breiten und am liebsten immer wieder neuen Wegen.
Im neuen Jahr wird es wieder viele Anfänge geben,
lose Enden, neue Verknüpfungen, Wiederbelebung alter Verbindungen.
Und ich werde meine Geschichte(n) so oder anders weiterschreiben.